Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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setzen; doch, die rathlose Magd hielt nichts bereit, und statt mit dem Essen war der Tisch noch mit dem Briefwechsel zweier Zeitgenossen gedeckt. Er tobte aufs neue, befahl sogleich zu kochen, was das Haus vermöchte, und verschloß die Briefe bis auf Weiteres in seine Pult. Nachdem er gegessen, war er endlich etwas beruhigt und begann seiner Einsamkeit inne zu werden, und erst jetzt wurde es ihm unheimlich; denn nach den Vorfällen der letzten Nacht konnte er nicht einmal Zuflucht in der Gesellschaft seiner Mitbürger suchen. Als vollends eine Person kam und er das lieblich duftende Zeug seiner Frau aus den Schränken herausgeben mußte, liefen ihm die Augen über, und er wünschte beinahe, daß sie noch da wäre, und überlegte, ob sich die Uebelthat nicht vielleicht verzeihen ließe nach genauerer Prüfung.
Er wartete daher zwei Tage, ob sie nichts von sich hören ließe, und als sie das nicht that, begab er sich zum Stadtpfarrer, um die Scheidung anhängig zu machen. Über den Versöhnungsversuchen, welche der geistlichen Behörde oblagen, dachte er, werde sich das Ding vielleicht aufklären. Er war aber sehr verwundert, als er vernahm, daß Gritli in gleicher Sache soeben dagewesen sei, und als ihm der Pfarrer bereits mittheilen konnte, wie es mit den Briefen zugegangen sei, wie Gritli ihren Fehlgriff einsehe,
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/200&oldid=- (Version vom 31.7.2018)