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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Nicht sie habe ihren Charakter geändert, sondern er, und bis dahin habe sie treulich und zufrieden mit ihm gelebt und er scheinbar mit ihr. Selbst als er seine neuen Künste angefangen, wie Jedermann bekannt sei, habe sie nicht mit den Leuten darüber gelacht, sondern als sie gesehen, daß es sich um den häuslichen Frieden handle, sei sie ehrlich beflissen gewesen, in seine Weise einzugehen, solange nur immer möglich, ungeachtet der peinlichen und wenig rühmlichen Lage, in welche sie dadurch gerathen. Zuletzt aber habe er das Unmögliche von ihr verlangt, nämlich ihre Frauengefühle in einer geschraubten und unnatürlichen Sprache und in langen Briefen für die Oeffentlichkeit aufzuschreiben und, statt ihrem häuslichen Leben nachzugehen, die schöne Zeit mit einer ihr fremden und widerwärtigen, nutzlosen Thätigkeit zu verbringen. Nicht sie habe sich der Verstellung hingegeben, sondern gerade er, indem er, bei trockenen und durchaus nicht begeisterten Gewohnheiten, sich selbst und sie damit gezwungen habe, eine höchst lächerliche Comödie in Briefen zu spielen. Dennoch habe sie, von ihm geängstigt und in der Hoffnung, diese ganze Störung werde um so eher vorübergehen, ihn zufrieden zu stellen gesucht, allerdings auf einem in der Noth und Verwirrung falsch gewählten Wege, wie sie unverhohlen bekenne.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/210&oldid=- (Version vom 31.7.2018)