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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

wurde er dabei still und vergaß ein paar Mal zu antworten. Unversehens stand sie auf und sagte: „Für heute muß es gut sein, sonst werde ich zu gelehrt! Uebermorgen auf den Abend komm’ ich wieder, wenn Ihr dann Zeit habt; behüt’ Euch Gott, Herr!“

Womit sie, ohne seine Antwort abzuwarten, sich entfernte, so unerwartet, als sie gekommen war.

Wilhelm sah ihr nach, ohne von seinem Stuhle aufzustehen. Dann grübelte er etwas in seinen Gedanken herum und sagte schließlich: „Am Ende werde ich hier auch fortgetrieben; es scheint mir mit dieser Person nicht ganz richtig zu sein!“

Frau Aennchen gefiel sich so gut in der ländlichen Tracht, daß sie auf einsamen Feldwegen herumspazierte, bis es Mittag läutete. Sie betrachtete gedankenvoll bald die junge Saat, bald den emsigen Lauf eines Bächleins; doch sie bedachte weder die Saat noch das Wasser, sondern erwog, wie weit sie die Probe mit dem jungen Manne treiben wolle; sie glaubte den Erfolg in ihrer Gewalt zu haben und war nur unschlüssig, ob sie denselben erst ein wenig zu ihrer eigenen Lustbarkeit lenken oder ob sie als ehrliche Frau und Freundin handeln solle. Denn der Einsiedler schien ihr wie geschaffen zu einer ersprießlichen Zerstreuung und zu einem Lustspiel für eigene Rechnung.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/251&oldid=- (Version vom 31.7.2018)