Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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nur mit einem weißen, schwarzgesäumten Armensünderhemde bekleidet, die Hände auf den Rücken gebunden und vom Henker an einem Stricke geführt. Das schöne Haar fiel ihm auf den glänzenden bloßen Nacken, verwirrt und flehend sah er, wie Hülfe und Erbarmen suchend, an die Häuser hinauf. Unter dem Portale des Rathhauses standen die festlich geputzten Knaben und Mädchen der Seldwyler, welche nach Kinderart vom Tische gesprungen und in's Freie geeilt waren. Als der arme Sünder diese hübschen und glücklichen Kinder erblickte, dergleichen er noch nie gesehen, wollte er vor ihnen stehen bleiben und die Thränen liefen ihm heiß über die Wangen; doch der Henker stieß ihn vorwärts, daß der Zug vorüberging, und bald verschwand. Die Seldwylerinnen oben erblaßten und auch ihre Männer faßte ein tiefes Grauen, da sie überhaupt nicht Liebhaber von dergleichen Vorgängen waren. Es ward ihnen unheimlich bei diesen Menschen, so daß sie dem Drängen ihrer Frauen, welche fort wollten, nachgaben, und sich, so höflich sie konnten, beurlaubten. Die Ruechensteiner dagegen waren mit dem Trumpf, welchen sie ausgespielt, zufrieden und fast heiter geworden; sie führten daher ihre werthen Gäste, wie sie sagten, guter Dinge wieder zum Thore hinaus, galant und gesprächig.
Vor dem Thore stieß der Zug auf die zurückkehrenden
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/296&oldid=- (Version vom 31.7.2018)