Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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über welchen der Mond schwebte: alles dies schien ihm unbegreiflich und wunderbar, da er noch nie den Wald, weder bei Tag noch bei Nacht, gesehen hatte. Er schaute, er horchte, endlich richtete er sich auf und sah neben sich Küngoltchen liegen, welcher der Mond gerade in's Gesicht schien. Sie lag still, aber ganz wach, weil sie vor Freude und Aufregung nicht schlafen konnte. Deshalb glänzten ihre Augen weit geöffnet und ihr Mund lächelte, als ihr der nahe Dietegen in's Gesicht schaute und sich nun besann. „Warum schläfst Du nicht? Du mußt schlafen!" sagte das Mädchen; allein er klagte nun, daß ihm der Hals weh thäte. Sogleich schlang Küngolt ihre zarten Aermchen um seinen Hals und schmiegte mitleidig ihre Wangen an die seinigen, und wirklich glaubte er bald nichts mehr von dem Schmerze zu verspüren, so heilsam schien ihm dieser Verband. Nun plauderten sie halblaut; Dietegen mußte von sich erzählen; allein er war einsilbig, weil er nicht viel zu sagen wußte, was ihn freute, und vom erlebten Elend konnte er keine Darstellung machen, weil er noch keinen Gegensatz davon kannte, den heutigen Abend ausgenommen. Doch fiel ihm plötzlich sein Vergnügen mit der Armbrust ein, das er seither ganz vergessen, und er erzählte von dem alten Juden, wie der ihn in die Tinte gebracht, wie er aber herrlich
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/303&oldid=- (Version vom 31.7.2018)