Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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geschossen habe länger als eine Stunde, und wie er sich nur wieder eine solche Armbrust wünsche. „Armbrüste und Schießzeug hat mein Vater genug, da kannst Du gleich Morgen anfangen zu schießen, so viel Du willst!" sagte Küngoltchen, und nun fing sie an herzuzählen, was alles für gute Dinge und schöne Sachen im Hause seien, was sie selbst für Hauptsachen in einer kleinen Truhe besitze, zwei goldene Regenbogenschüsselchen, ein Halsband von Bernstein, ein Legendenbüchlein mit bunten Heiligen und auch einen schönen Schnecken, in welchem eine kleine Mutter Gottes sitze in Gold und rother Seide, mit einem Glasscheibchen bedeckt. Auch gehöre ihr ein vergoldeter silberner Löffel mit einem gewundenen Stiel, mit dem dürfe sie aber erst essen, wenn sie einst groß sei und einen Mann habe; dann bekomme sie zur Hochzeit den Brautschmuck ihrer Mutter und deren blaues Brokatkleid, welches ganz allein aufrecht stehen könne, ohne daß Jemand drin stecke. Hierauf schwieg sie ein Weilchen; dann ihren Schlafgesellen fester an sich schließend, sagte sie leiser: „Du, Dietegen!" „Was?" fragte er, und sie erwiederte: „Du mußt mein Mann werden, wenn wir groß sind, Du gehörst mein! Willst Du freiwillig?" „Ja freilich," sagte er. „So gib mir die Hand darauf!" meinte die Heirathslustige; er that es, und nach diesem
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/304&oldid=- (Version vom 31.7.2018)