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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Der Forstmeister war ein Mann von etwa vierzig Jahren, groß und fest, von breiten Schultern und schönen Ansehens. Sein goldblondes Haar war bereits von einem Silberschimmer überflogen, dagegen die Gesichtsfarbe frisch geröthet und die blauen Augen groß, offen und voll Feuer. In seiner Jugend war er denn auch der lustigste und wildeste der Seldwyler gewesen, der stets die wunderlichsten Streiche angegeben; als er aber seine junge Frau heimgeführt, änderte er sich augenblicklich und blieb seit der Zeit der gesetzteste und ruhigste Mann von der Welt. Denn die Frau war von äußerst zarter Beschaffenheit, von einer wehrlosen Herzensgüte, und obgleich nicht unwitzig, hätte sie doch mit keinem scharfen Worte einer Unbilde zu widerstehen vermocht. Eine rüstig Streitbare würde den lebhaften Mann wahrscheinlich zu weiterem Thun gereizt haben; gegen die anmuthige Schwäche der zarten Frau aber benahm er sich wie die wahre Stärke; er hütete sie wie seinen Augapfel, that was ihr Freude gewährte und blieb nach vollbrachtem Tagwerk ruhig an seinem Herde.

Nur bei den wichtigsten Festlichkeiten der Stadt, des Jahres etwa drei oder vier Mal, ging er unter die Räth' und Burger, führte dort mit frischer Kraft den Reigen, und nachdem er die Alltagszecher einen

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/316&oldid=- (Version vom 31.7.2018)