Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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Stelle kam. Der erklomm einen Absatz an einer gegenüberstehenden hohen Mauer, zog mit gewaltiger Kraft eine Leiter nach sich, schwenkte sie in der Luft und legte sie nach dem Fenster der Verlassenen hinüber. Auf dieser Schwindelbrücke ging er hin und schritt wieder herüber, das Weib auf den Armen, den Vogel auf dem Kopfe und das leckende Feuer unter sich. Alles dies that er wie zum Scherze, mit launigen Ausdrücken und Bewegungen.
War dann ein tüchtiges Stück Arbeit gethan, so bewirthete er sein Haus auf das Beste und hielt eine lustige Nachfeier mit den Seinen. Dabei war er ungewöhnlich zärtlich gegen seine Frau, nahm sie wohl auf die Kniee, zum großen Vergnügen der Kinder, und nannte sie sein Weißkehlchen und seine Schwalbe, und sie, die Arme über einander gelegt in selbstvergessener Behaglichkeit, verwandte lachend kein Auge von ihm.
An einem solchen Tage war es auch, daß er einen Tanz veranstaltet, da es gerade der erste Mai war. Er ließ einen Spielmann holen und einige junge Leutchen aus der Stadt dazu laden. So wurde denn auf dem glatten Rasen unter den blühenden Bäumen zunächst des Hauses zierlich getanzt, und der Forstmeister eröffnete den Reigen mit seiner Frau, die sich bescheiden geschmückt hatte, aber ihre feine
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/318&oldid=- (Version vom 31.7.2018)