Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
|
war. Dietegen ging mit, um zu sehen, wo sie untergebracht würde. Das war in einer offenen kleinen Vorhalle des Hauses, welche unmittelbar an den Todtengarten grenzte und von demselben durch ein eisernes Gitter abgeschlossen war. Dort pflegte nämlich der Todtengräber in der wärmeren Jahreszeit seine Gefangenen einzusperren, während er sie über den Winter einfach in die Stube nahm und mit einer leichten eisernen Kette an einen Fuß des Ofens band.
Als aber Küngolt in ihrem Gefängniß war und sich nur durch ein Eisengitter von den Gräbern der Todten getrennt sah, überdies in nächster Nachbarschaft das alte Beinhaus bemerkte, das mit Schädeln und andern Gebeinen angefüllt war, fing sie an zu zittern und bat flehentlich, man möchte sie nicht da lassen, wenn es Nacht werde. Die Frau des Todtengräbers dagegen, welche eben einen Strohsack und eine Decke herbeischleppte, auch eine Art Vorhang an dem Gitter anbrachte, sagte, das könne nicht sein und der ernste Aufenthalt gereiche ihr nur zur wohlthätigen Buße für ihren sündigen Sinn.
Da sagte Dietegen: Sei ruhig, ich fürchte mich nicht vor den Todten und Gespenstern und will des Nachts so lange hieher kommen und vor dem Gitter wachen, bis Du Dich auch daran gewöhnt hast!
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/350&oldid=- (Version vom 31.7.2018)