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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

sachte etwas geklappert hatten. Dann wurden vom Nachtwind die Sträucher über den Gräbern bewegt, daß sie leise rauschten, und der Hahn auf dem Dachreiter der Kirche gedreht, welches einen seltsamen Ton gab, den man im Tagesgeräusch nie vernahm.

Als daher Küngolt die nahenden Schritte hörte, erschrack sie von Neuem und fuhr zusammen; als er aber durch das Gitter griff und den Vorhang zurückschob, daß der Vollmond den Raum erhellte, und sie leise anrief, da stand sie eilig auf, lief ihm entgegen und streckte beide Hände durch das Gitter.

„Dietegen!" rief sie und brach in Thränen aus, die ersten, die sie seit dem Unglückstag vergießen konnte; denn sie hatte bis jetzt wie in einer starren Betäubung gelebt.

Dietegen gab ihr aber die Hand nicht, sondern das Weinfläschchen und sagte: „Nimm einen Schluck Wein, es wird Dir gut thun." Sie trank und nahm auch von dem guten Brod ihres Vaterhauses, das er ihr gebracht. So wurde es ihr besser zu Muth, und als sie sah, daß er nicht weiter mit ihr sprechen wollte, zog sie sich schweigend auf ihr Lager zurück und weinte leise, bis sie in einen ruhigen Schlaf versank.

Dietegen aber hielt sie nach seinen jugendlich spröden Begriffen und in seiner Unerfahrenheit für ein

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/352&oldid=- (Version vom 31.7.2018)