Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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Sie freute sich der geschützteren Lage und der Rettung, welche sie dem Dietegen dankte, und schrieb Alles seiner treuen Gesinnung für sie zu, obgleich er in dieser Nacht kein Wort mit ihr gesprochen und sich nach gethaner Sache ohne Weiteres hinweg begeben hatte.
Als nun aber die gute Küngolt dergestalt installirt war, fand sich ein neuer Liebhaber ihrer Schönheit ein in der Person eines Kaplans, welcher allerhand kleine Priestergeschäfte an der Kirche besorgte und auch den geistlichen Beistand bei den Siechen und Gefangenen auszuüben hatte. Dieses Pfäfflein kam nun, da Küngolt in der warmen Stube saß, fleißig zu ihr, um ihr Zusprache zu halten, ihr die Neigung zur Zauberei und Spendirung von Liebestränken auszutreiben und sich dabei ihres schönen Anblickes und lieblichen Wesens zu erfreuen. Denn seit der Zeit ihres Leidens war eine neue Art von Schönheit, über sie gekommen; sie war ein reifes, schlankes, obgleich blasses Frauenbild geworden, dessen Augen in sanftem und lieblichem Feuer strahlten, von einem Trauerschatten umgeben. Sie wurde, vom Anbinden abgesehen, wie ein Glied des Hauses gehalten, in dem auch einige Kinder sich befanden, und wenn der Kaplan kam, so wurde er mit einem Glase Wein oder Bier bewirthet, für welches der
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/357&oldid=- (Version vom 31.7.2018)