Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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und in den glücklichen Tagen der verlorenen Kindheit zu leben. Besonders verweilte ihr Sinnen fast zu jeder Stunde auf jener Waldhöhe, wo die Seldwyler Frauen das vom Tode errettete Kind Dietegen einst in seinem Armensünderhemde gekos't und mit Blumen geschmückt hatten, und sie eilte, so oft sie konnte, hinauf und schaute voll Sehnsucht nach dem fernen Südwesten, wo man sagte, daß die drohende Schaar der unbezwinglichen Jünglinge sich gelagert habe.
Aber in der gleichen Berggegend, welche vom Ruechensteiner Grenzbanne durchschnitten war, kreiste der Rathsschreiber Schafürli herum, der stetsfort nach Heilung des ihm angethanen Schadens oder aber nach Rache dürstete; denn es waltete in Ruechenstein trotz der vermeintlichen Hexerei wegen der Tödtung des Schultheißensohnes doch ein offener und geheimer Haß gegen ihn, den er durch den Tod der von den Seldwylern nach Ruechensteiner Ansicht unbestraft gelassenen Küngolt zu sühnen hoffte. Als daher eines Tages die arme Küngolt achtlos gerade auf einem Grenzsteine saß, und zwar so, daß ihre Füße auf dem Ruechensteiner Boden ruhten, trat Schafürli unversehens mit einem Rathsknechte aus den Bäumen hervor, nahm sie gefangen und führte sie gebunden nach seiner Stadt, wo ihr wegen des durch ihre
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/366&oldid=- (Version vom 31.7.2018)