Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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zum Nachtmahl aus der Vorrathskammer geraubt. Wenn sie dann mit geröthetem Gesicht gar fröhlich und lieblich dreinschaute und vollends die glänzende Zinnkanne mit klarem leichtem Weine regierte, so bezeugten die Alten, daß sie erst jetzt wie eine rechte alte Landjungfer aussehe, und es gab etwa noch eine kleine Mummerei, indem die Großmutter ihren verjährten Granatschmuck, sowie Sonntagshäubchen und seidene Jacken herbei brachte, die sie vor sechzig Jahren in blühender Jugend getragen. Damit kleidete sich die Enkelin zum allgemeinen Wohlgefallen; aber anstatt in den Spiegel schaute Justine dann mit ihrem glückseligen Lachen dem Jukundus in's Gesicht, das die wie aus weiter Zeitferne herüberleuchtende Erscheinung anstaunte.
Auch an Sonntagen ging er meistens in den Berg hinaus, da es ihm dort wohler zu Muth war, als in dem lauten, aber eintönigen Gesellschaftslärm, welchen die viel sprechenden Leute bei ihren Zusammenkünften unten erhoben.
An Feiertagen lag auf dem Berge immer die Bibel geöffnet auf dem Tische, damit die Ehgaumerin die langen Stunden hindurch bequem ab und zu darin lesen konnte, wenn es ihr einfiel, wie man einen Krug Wein, eine Schüssel mit Kirschen oder andern Näschereien an solchen Ruhetagen zur Erquickung bereitstehen läßt.
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/429&oldid=- (Version vom 31.7.2018)