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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Hatte sie ihren Rosmarinzweig und ihre Brille dann auf das Buch gelegt, wenn sie des Lesens müde war, so pflegte Jukundus gern sich hinter die Bibel zu setzen und darin zu lesen, weil ihm das Buch sonst selten zur Hand war, wie es so geht, wo man stets neueres und nothwendigeres lesen soll oder dann jenes Alte in der Zwangszeit der Schuljahre sich genugsam angeeignet zu haben meint. Er betrachtete die schwülen Gewittergründe des alten Testamentes, die leidenschaftlichen Gestalten darin, oder entdeckte die hamletartige Scene im Johannesevangelium, wo Jesus nachdenklich mit dem Finger etwas auf den Boden schreibt, ehe er sagt, wer ohne Sünde sei, möge den ersten Stein auf die Sünderin werfen, wo er dann wieder schreibt und, als er aufsieht, alle Ankläger hinweg gegangen sind und das Weib einsam vor ihm steht im still gewordenen Tempel.

Die Großmutter sah das sehr gern; denn sie war ganz alt- und rechtgläubig und überzeugt, daß das Lesen in der Bibel Jedem ohne Weiteres gedeihlich sei. Justine hatte ihn, um sein unkirchliches Wesen zu beschönigen, bei den Alten für einen Philosophen ausgegeben; denn sie selbst hing der unbestimmten Zeitreligion an und war darin um so eifriger, je gestaltloser ihre Vorstellungen waren.

Einst setzte sich die Alte traulich zu ihm, als er

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/430&oldid=- (Version vom 31.7.2018)