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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

sein Fernstehen nicht zu billigen und so über derselben stehen zu wollen schien. Er empfand alles solches Fernstehen als einen stillen Vorwurf gegen sich selbst und eine schweigende Kritik seines Thuns, und er hatte daher einen Groll gegen Jukundus gefaßt und predigte gegen ihn. Denn auch diese Untugend hatten einige der neuen Priester von den Alten herübergenommen, daß sie auf der Kanzel, wo sie allein das Wort führten und Niemand erwidern durfte, aussprachen, was sie irgend persönlich bedrückte, und nach Gutdünken anklagten und anzeigten. Jener wußte aber hievon nichts, weil er nicht viel Acht gab auf der Leute Reden und dem Sinne undeutlicher Anspielungen nicht nachfragte.

Als Jukundus am spätem Abend also auf den Pfarrhof kam, um seine Frau versprochener Maßen abzuholen, hatte der Pfarrer seinen Vortrag über die gegenseitige Verjüngung der Kirche und der schönen Künste vor einigen Freunden eben beendigt. Jukundus mußte noch ein wenig Platz nehmen.

„Wenn Sie mir gegönnt hätten, meine kleine Arbeit mit Ihrem Mitanhören zu beehren," sagte der Pfarrherr, „so würden Sie vielleicht einen Ausgleichspunkt gefunden haben in dem Gedanken, daß jetzt die Zeit da ist, wo die Kunst ihr Dasein der Religion danken und der guten reichen und doch jetzt so armen

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/456&oldid=- (Version vom 31.7.2018)