Seite:Die Leute von Seldwyla 3-4.pdf/46

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Gottfried Keller: Kleider machen Leute. In: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage, Band 3

und ihrer Nachahmer in den wohlklingenden Namen: Rosenthal, Morgenthal, Sonnenberg, Veilchenburg, Jugendgarten, Freudenberg, Henriettenthal, zur Camellia, Wilhelminenburg u. s. w. Die an Frauennamen gehängten Thäler und Burgen bedeuteten für den Kundigen immer ein schönes Weibergut.

An jeder Straßenecke stand ein alter Thurm mit reichem Uhrwerk, buntem Dach und zierlich vergoldeter Windfahne. Diese Thürme waren sorgfältig erhalten; denn die Goldacher erfreuten sich der Vergangenheit und der Gegenwart und thaten auch Recht daran. Die ganze Herrlichkeit war aber von der alten Ringmauer eingefaßt, welche, obwohl nichts mehr nütze, dennoch zum Schmucke beibehalten wurde, da sie ganz mit dichtem altem Epheu überwachsen war und so die kleine Stadt mit einem immergrünen Kranze umschloß.

Alles dieses machte einen wunderbaren Eindruck auf Strapinski; er glaubte sich in einer anderen Welt zu befinden. Denn als er die Aufschriften der Häuser las, dergleichen er noch nicht gesehen, war er der Meinung, sie bezögen sich auf die besonderen Geheimnisse und Lebensweisen jedes Hauses und es sehe hinter jeder Hausthüre wirklich so aus, wie die Ueberschrift angab, so daß er in eine Art moralisches Utopien hinein gerathen wäre. So war er geneigt zu glauben, die wunderliche Aufnahme, welche er

Empfohlene Zitierweise:
Gottfried Keller: Kleider machen Leute. In: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage, Band 3. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/46&oldid=- (Version vom 31.7.2018)