Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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bezeichnete und das persönliche Leben auf das Straßenpflaster hinausschleifte.
Nachdem diese Opfer in einen Teig von Lächerlichkeit, bestehend aus erfundenen körperlichen Gebrechen und Gewohnheiten, meist nur etwa linkischen Gebehrden, eingeknetet waren und so herumgestoßen wurden, legte man ihnen plötzlich längst begangene geheime Verbrechen, einen abscheulichen Lebenswandel, eine Niedrigkeit der Denk- und Handlungsweise zur Last, welche durch das Ansehen, das sie bisher genossen, nur um so greller und unerträglicher hervorgehoben wurden. Zwar wurden die Anschuldigungen bestimmter Uebelthaten, welche sofort einem Criminalverfahren nach allen Seiten hin rufen mußten, beim ersten Aufschrei der Betroffenen lächelnd fallen gelassen. Allein der Abscheu blieb an den Personen haften und aller übrige gestaltlose Unfug wurde festgehalten durch die Rathlosigkeit der Verfolgten, und bei dem allgemeinen Schrecken und Widerwillen entstand eine förmliche Straflosigkeit, zumal jede Prozeßverhandlung zu einem Feste für die Verfolger zu werden begann und mit den schwersten Drohungen begrüßt wurde.
So eilten denn aus allen Ritzen und Schlupfwinkeln die Theilnehmer an dem allgemeinen Reichstage der Verläumdung und der Beschimpfung herbei.
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/468&oldid=- (Version vom 11.5.2019)