Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
|
gewesen wäre. Während er im Geschäftsleben schon vorsichtiger geworden war, wurde er von dieser Bewegung überrascht wie ein Kind und glaubte jede Schändlichkeit, die man vorbrachte, wie ein Evangelium, über die Maßen erstaunt, wie es also habe zugehen können und was in einer Republik möglich sei.
Seine besondern Mitbürger, die Seldwyler, hatten von Anfang an diese Ereignisse wie ein goldenes Zeitalter begrüßt. Nichts Lustigeres konnte es für sie geben, als das Auslachen und Heruntermachen so vieler betrübter langer Gesichter, die so lange besser hatten sein wollen, als andere Leute. Sie thaten sich nicht gerade hervor in der Erfindung von Abscheulichkeiten, waren aber um so thätiger im Aufbringen von Lächerlichkeiten. Immer kamen Einige oder ganze Gesellschaften von ihnen nach der Hauptstadt, um zu sehen, was es Neues gäbe, und an der täglich höher gehenden Bewegung Theil zu nehmen. Weil Jukundus die beste Gestalt unter ihnen war, so machten sie ihn zu ihrem Häuptling und er ging im tiefsten Ernste vor der lachenden und stets zechenden Zunft der Seldwyler her, traurig und bekümmert, aber auch entrüstet und straflustig. Denn er hatte die Welt noch nie in diesem Lichte gesehen; es war ihm zu Muth, als ob der Frühling
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/472&oldid=- (Version vom 31.7.2018)