Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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und mit wohltönender Stimme, ohne jedoch die mindeste Fröhlichkeit zu erreichen. Der Arzt wurde sogar bedenklich und sagte aus, der melodisch fibrirende Klang ihrer Stimme lasse auf beginnende Brustkrankheit schließen und man müsse zusehen, daß sie sich schone.
Alle fühlten wohl, was ihr fehle, wußten ihr aber nicht zu helfen und wurden unversehens selber hülfsbedürftig; denn es brach eine jener grimmigen Krisen von jenseits des Oceans über die ganze Handelswelt herein und erschütterte auch das Glor'sche Haus, welches so fest zu stehen schien, mit so plötzlicher Wuth, daß es beinahe vernichtet wurde und nur mit großer Noth stehen blieb. Schlag auf Schlag fielen die Unglücksberichte innerhalb weniger Wochen und machten den stolzen Menschen die Nächte schlaflos, den Morgen zum Schrecken und die langen Tage zur unausgesetzten Prüfung. Große Waarenmassen lagen jenseits der Meere entwerthet, alle Forderungen waren so gut wie verloren und das angesammelte Vermögen schwand von Stunde zu Stunde mit den hochprocentigen Papieren, in welchen es angelegt war, so daß zuletzt nur noch der Grundbesitz und einiges in alten Landestiteln bestehende Stammvermögen vorhanden war. Aber auch dieses sollte dahin geopfert werden, um die eigenen Verbindlichkeiten zu erfüllen, welche
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/483&oldid=- (Version vom 31.7.2018)