Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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ich mich so lange nicht habe blicken lassen. Ich bin in der That, mehr als Sie denken, im gleichen Spitale krank, wie Sie und die Ihrigen!"
Als Justine sich verwundert eine deutlichere Auskunft erbat, fuhr er fort:
„Ich habe reich werden wollen und habe daher im Umgange mit den Ihrigen, in Ihrem Hause, gelauscht und mir gemerkt, auf welcherlei Weise die Vermögenssummen dort verwendet werden; ich habe mir die Handelspapiere aufgeschrieben, von welchen der größte Gewinn erwartet wurde, und ich habe die Operationen, die ich machen sah, im Geheimen nachgeäfft mit dem mäßigen Vermögen meiner Frau, und als ich ahnte, daß das Haus Glor erschüttert war, wußte ich zugleich, daß ich selbst Alles verloren und das Erbe meiner Gattin und ihrer Kinder vergeudet und verspielt hatte. Sie weiß es noch nicht und ich darf es Niemandem sagen, wenn ich nicht meinen Stand verunehren will. Aber Ihnen gegenüber, da Sie mir so unversehens erscheinen, drängt es mich zur Offenheit!"
Justine war erschrocken; dieser neue Verlust machte ihr aufrichtigen Aerger und Verdruß, und sie sagte daher etwas unwillig: „Aber was in aller Welt hat Sie denn gezwungen, in Handelsgeschäften zu wagen, da Sie ein Pfarramt und Einkommen besitzen?"
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/491&oldid=- (Version vom 31.7.2018)