Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
|
„Das ist mir nun unmöglich geworden, wenigstens für jetzt, weil ich mich, indem ich auf dem Wege des Reichthums fliehen wollte, sogar der Mittel beraubt habe, eine nährende Existenz mit einiger Sicherheit zu gründen."
Justine saß wie versteinert; sie war gekommen, Rath und Beistand zu holen, und sah wieder eine Stütze, einen Lebensinhalt dahin sinken; denn wie ein Blitz leuchtete es in sie hinein, wie es mit diesen Dingen stand und warum sie selbst im Unglück ihre bunte Kirche nicht gesucht hatte. Eine bittere Qual stieg in ihrer arbeitenden Brust auf; aber sie konnte derselben nicht nachgeben, weil ein noch stärkeres Mitgefühl jetzt gefordert wurde, als der Geistliche in Thränen ausbrach und sagte:
„Heute ist mir nun das Aeußerste widerfahren, ich bin von einem Sterbebette hinweggewiesen worden! Eine zähe Greisin ringt seit vielen Stunden mit dem Tode, welche eigensinnig alle ihre Kinder wiederzusehen hofft, besonders ihren im Elend gestorbenen ältesten Sohn. Ich komme hin, voll Sorgen und zerstreut, und halte, indem ich mich anschicke, meine selbstverfaßten, wie Sie wissen, etwas pantheistisch klingenden Sterbegebete zu verrichten, auf ihre an mich gerichteten Fragen nach der Gewißheit des ewigen Lebens, haltlose, unsichere Reden, so daß die Sterbende
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/494&oldid=- (Version vom 31.7.2018)