Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
|
Nähe der Hütte im Felde schlich, zog ihr das Pelzröcklein aus und sott sie im Wasser, um den schwarzen Hunger zu stillen; auch nahm sie sorglich das Fett ab zum Kochen einiger Wassersuppen für den Fall, daß ein wenig Mehl oder Brod in's Haus käme. Allein diese Gewaltthat wurde entdeckt, und die Geldbuße, welche der Frau dafür auferlegt wurde, nahm den Lohn eines ganzen Monats hinweg, welchen der Mann endlich nach langem Suchen bei einem Straßenbau hatte erwerben können. Deßhalb trank derselbe in seiner gutmüthigen Einfalt, auf den Rath Anderer, vom nächsten Lohn sogleich einen Rausch, ehe man ihm das Geld nehmen konnte, und wurde dabei von einer unterhöhlten Erdlast erschlagen, da er nicht rechtzeitig vor dem Sturze floh. Damit war aber auch die Zeit der Sünde und der Weltlust für die Frau Ursula vorüber.
Um jene Zeit waren ärmliche namenlose Prediger erschienen, welche unter dem geringen Volke für irgend eine Sekte Anhänger suchten und die bekehrten Leute tauften. Sie lehrten das reine ursprüngliche Christenthum, wie es nach ihrer Meinung ohne jede Gelehrsamkeit in der Bibel zu finden war, wenn man nur jedes Wort ganz buchstäblich und zwar in der deutschen Übersetzung, die ihnen zu Gebote stand, auffaßte. Die Hauptsache war, daß in That und Wahrheit ein
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/503&oldid=- (Version vom 31.7.2018)