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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Waschfrauen, die an hervorragender Stelle feierlich auf einem Baumstamme saßen, wie ebensoviele Bischöfe, eine sich erhob und das verlorne Schäflein mit seinem Jungen abholte und an der Hand herbeiführte.

So war sie nun in die Gemeinde aufgenommen und wuchs mit ihrem Kinde zu einem angesehenen Mitgliede derselben heran, eigenthümlich und verschieden von allen andern, wie aus dem gleichen Erdreiche je nach ihrer Art die verschiedensten Pflanzen wachsen.

Die Waschfrauen zunächst einverleibten sie ihrem Verbande und verschafften ihr genügende Arbeit, so daß sie eine Wäscherin im Herren wurde, welche in den Häusern vierzig Jahre lang ohne Aufhören schaffte und sich abmühte Tag und Nacht, bis ihre Kräfte mehr als erschöpft waren. Während dieser Zeit hatte die Gemeinde sich längst Duldung errungen und zu einer gewissen Stattlichkeit entwickelt; die Glieder waren alle, durch gegenseitige Hülfe und geordnetes Leben emporgehalten, in einem behaglichen Zustande; die Prediger stellten sich schon mehr als Geistliche mit einiger Gelehrsamkeit dar und trugen bessere Röcke; die Versammlungen fanden in einem hellen freundlichen Betsaale statt, auch wurde der Landeskirche sowohl als andern sich ausbreitenden Sekten gegenüber schon eine kleine Kirchenpolitik getrieben.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/507&oldid=- (Version vom 31.7.2018)