Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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Ursula aber und Agathchen ihre Tochter blieben sich immer gleich, verharrten in der Einfalt der ersten Zeit und wurden ohne ihr Wissen Musterbilder menschlicher Frömmigkeit. Die Tochter war schwach und kränklich von Körper; sie haspelte lange Jahre Seide in den Arbeitsräumen des Glor'schen Hauses und lebte so mit ihrer Mutter zusammen, welche wusch. So lange sie so fortarbeiten konnten, erwarben sie zur Genüge, wessen sie bedurften, konnten ihren Religionsgenossen helfen und beisteuern, wo es Noth that, und ließen sich nicht suchen; und darüber hinaus hatten sie immer noch kleine Mittel, sich freundlich und dankbar zu erweisen gegenüber der Welt, für jeden kleinen Dienst, für jede Freundlichkeit, die ihnen erwiesen wurden. Sie verstanden ohne Absicht die Kunst, in der Armuth reich zu sein, allein durch die unaufhörliche Arbeit und die eigene Genügsamkeit und Zufriedenheit. Der einzige Krieg, welchen sie unter sich führten, bestand in dem gegenseitigen Wetteifer mit eben solchen Freundlichkeiten und Wohlthaten, wie sie den Fremden erwiesen, weil Jedes, sobald es empfangen sollte, sich dagegen wehrte und behauptete, das sei unnöthig und übertrieben.
Sonst lebten sie im tiefsten Frieden mit aller Welt. Jede Kränkung verziehen sie im Augenblicke der That und erwiderten nie ein rauhes Wort im
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/508&oldid=- (Version vom 31.7.2018)