Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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nur Diejenigen zu beißen, die es berührt oder gestoßen haben! dachte Jukundus und fragte, was ihr denn dieser oder jener von den früher Angefallenen gethan habe?
Sie lachte sogleich heiser, als sie die Namen jener Opfer hörte und sich des gewichtigen Antheils erinnerte, welcher ihr an der lustigen Hetzjagd vergönnt gewesen. Jedoch gab sie keine Antwort auf die Frage, sondern begann mit schwerfälliger Beredsamkeit zu schildern, wie sie bei dem Aufbringen und Ausbreiten der bösen Nachreden und Anschuldigungen verfahren sei. Da brauche es zuerst nur eine bestimmte, an sich unschuldige Eigenschaft, einen Zustand, ein Kennzeichen des Betreffenden, einen Vorfall, das Zusammenkommen zweier Umstände oder Zufälle, irgend etwas, das an sich wahr und unbezweifelt sei und für die zu machende Erfindung einen Kern von Wirklichkeit abgebe. Auch seien nicht nur Erfindungen zu verwenden, sondern man könne auch mit Vortheil die von dem Einen verübten Vergehen und Abscheulichkeiten auf den Andern übertragen mittelst jener äußeren wirklichen Zufälligkeiten, oder das, was man selbst zu thun immer Lust verspüre oder vielleicht schon ein bischen gethan habe, einem Andern anhängen. Auf solche Weise das oft unbillige Schicksal auszugleichen und zu verbessern, gewähre ein gewissermaßen göttliches
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/521&oldid=- (Version vom 31.7.2018)