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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Spanne des blauen Horizontes mit einem länglichen weißen Gebäude schimmern, das mehr zu ahnen als zu erkennen war.

„Kannst Du jenes weiß glänzende Ding sehen?" sagte er, „es ist einst ein Kloster gewesen, das vor siebenhundert Jahren ein Rittersmann zum Gedächtniß seiner Frau gestiftet hat, als sie ihm gestorben war. Er selbst ging in das Haus hinein und verließ es in seinem Leben nicht wieder. So lieb bist Du mir, wie dem seine Frau war, obgleich ich in kein Kloster gehen würde, wenn ich Dich verlöre. Aber der ganze glänzende und stille Weltsaal wäre für mich das Gotteshaus Deines Gedächtnisses, Deine Grabkirche! Doch laß uns nun den kleinen Ehrenhandel schlichten, der noch zwischen uns schwebt. Zur Buße und Sühnung sollst Du mir jenes grobe Wort noch einmal sagen, das uns entzweit hat, Du gröbliches Liebchen, aber mit lachendem Munde, damit es seinen bösen Sinn verliert! Schnell also, wie hieß es?"

Er legte hiebei den Arm um ihre Schultern und hielt mit der andern Hand ihr Kinn fest. Sie schüttelte aber den Kopf und verschloß, so dicht sie konnte, den Mund. Da klopfte er ihr sachte auf die Wangen, suchte ihr den Mund aufzumachen und sagte immer: „Schnell! heraus mit der Sprache, rühre Dein Züng-

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/530&oldid=- (Version vom 31.7.2018)