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Karl Kautsky, Emanuel Wurm (Hrsg.): Die Neue Zeit
Offener Brief an Jean Jaurès

„Eine Verständigung zwischen Frankreich, England und Rußland, eine ‚Triple-Entente‘ bedeutet an sich nicht eine Bedrohung des Friedens. Sie kann sogar friedliche Zwecke und friedliche Wirkungen haben. In jedem Falle beweist sie, daß viele als unvereinbar abgestempelte Gegensätze sich dennoch einen lassen. Zur Zeit von Faschoda schienen Frankreich und England am Vorabend eines Krieges zu stehen; jetzt haben sie die Entente cordiale geschlossen. Als ich noch ein Kind war, lernte ich in der Schule, daß England und Rußland vom Schicksal zur Gegnerschaft in Asien bestimmt seien. Jetzt haben wir die Zusammenkunft in Reval erlebt, die friedliche Abmachungen über die Verhältnisse in Asien ergab – vielleicht auch über die Verhältnisse in Europa.

„Weshalb solte sich der ausgesprochene Gegensatz zwischen Deutschland und England nicht ebenso ausgleichen lassen?

„Selbst eine neue Triple-Entente könnte zu einer solchen friedlichen Lösung helfen, wenn Frankreich seine Rolle richtig auffaßt, wenn es das Bewußtsein seiner Pflicht neben dem Bewußtsein seiner Macht besitzt.“

Nur einen Schatten finden Sie in diesen leuchtenden Perspektiven:

„Ein Unglück ist es freilich, daß Deutschland sich mit der Türkei zu solidarisieren scheint – nicht nur mit dem türkischen Reiche, auch mit den türkischen Mißbräuchen. Mir scheint, daß es der Türkei genügenden Schutz gegen gewaltsame Eingriffe geben könnte, ohne doch seine Unterstützung dem notwendigen Werke humaner Reformen zu weigern. Deutschland würde nur die Sache seiner Gegner fördern, wenn es ihnen die Möglichkeit zu der Behauptung gibt, daß es seinen Einfluß in der Türkei durch bedenkliche Gefälligkeiten zu erkaufen sucht. Natürlich hat die Türkei das größte Interesse daran, selbst die Reformen im Lande vorzunehmen; sie würde mit einem solchen Vorgehen den Staaten, die ihre Politik unter dem Mantel der Humanität verstecken, jeden Vorwand zur Einmischung in türkische Verhältnisse nehmen.

„Wenn Deutschland rechtzeitig in Konstantinopel die Stimme der Vernunft zu Gehör brächte, würde es den Freunden des Friedens die Aufgabe erleichtern, auch der Annäherung zwischen Frankreich, Rußland und England eine wahrhaft friedliche Bedeutung zu geben und so das Herannahen der Stunde zu beschleunigen, in der Triple-Alliance und Triple-Entente sich zu einer großen europäischen Verständigung einen könnten.

Ich darf fragen, daß an der Erreichung dieses Zieles die französischen Sozialisten nach Maßgabe ihrer Kräfte mit leidenschaftlichem Eifer arbeiten.

Es gibt manches in diesen Darlegungen, was mir mit der Auffassung der deutschen Sozialdemokratie von der auswärtigen Politik schwer vereinbar erscheint. Ich glaube zum Beispiel, daß die politischen Kombinationen, die von einem „Frankreich“, „Deutschland“, „Rußland“, „England“ und von den „Interessen“ dieser fraglichen Wesen handeln, der zünftigen Sprache der bürgerlichen Politiker wie ein Ei dem anderen gleichen. Ich glaube, daß die „Interessen“ der heutigen kapitalistischen Staaten auch in der auswärtigen Politik sehr verschieden, ja oft direkt entgegengesetzt sind, je nachdem man sie vom Standpunkt der harrschenden Klassen oder des Proletariats und seiner Klassenpolitik betrachtet, und daß es deshalb keineswegs im Interesse des

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Karl Kautsky, Emanuel Wurm (Hrsg.): Die Neue Zeit. J.H.W.-Dietz-Verlag, Stuttgart 1908, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Neue_Zeit,_Bd._2_(1908)_S._589.png&oldid=- (Version vom 21.12.2021)