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Walther Kabel: Die gelbe Gefahr (Reclams Universum, Jahrgang 33)

Ich sank zurück, meine zitternde Hand hielt kaum noch die Eichenkeule … Und doch wurde ich nicht ohnmächtig, wie ich anfangs fürchtete. Vielleicht war der Schreck zu groß, vielleicht peitschte die Todesangst meine Nerven wieder wach … Meine Gedanken arbeiteten blitzschnell; ein eigenartiger Zustand hatte sich meiner bemächtigt. Wie im Traum durcheilte ich in Sekunden lange Zeiträume, Erinnerungen aus meiner frühesten Kindheit tauchten auf, unzusammenhängende Bilder aus verschiedenen Lebensabschnitten glitten an meinem geistigen Auge vorüber - alles so greifbar deutlich und mit einer so rasenden Geschwindigkeit das Hirn durchkreuzend und doch immer wieder in demselben Gedanken endigend: „Das ist nun alles vorbei – alles – du bist verloren!“

Was nun folgte, lebt noch so deutlich in meiner Erinnerung, als hätte ich das Schreckliche erst gestern durchgemacht. Die furchtbaren Szenen hat die Todesangst meinem Geiste unauslöschlich eingeprägt. Plötzlich fuhr ein gelber Körper durch die Luft, ich wollte die Keule zur Abwehr erheben, da wurde sie mir aus der Hand geschlagen; das zweite Tier war zugesprungen. Beide hingen sie nun nebeneinander in der Baumöffnung. Wieder fühlte ich den stinkenden Atem mir ins Gesicht wehen, diesen penetranten Geruch, den alle Raubtiere ausströmen … Mit letzter Verzweiflung griff ich nach meinem Stockdegen, ließ die Keule fahren und stieß zu – einmal – wieder – wieder – bis mein Arm von dem furchtbaren Hiebe einer Tatze getroffen wurde, der Degen mir entfiel … Funken sprühten vor meinen Augen, ich glaubte noch etwas wie zwei kurz aufeinander folgende Schüsse zu hören … dann sank ich in einen Abgrund, versank in die Unendlichkeit mit wahnwitziger Geschwindigkeit – dann … wußte ich, fühlte ich nichts mehr … nichts …

Als ich erwachte, lag ich in einem mir unbekannten Raume in einem Bett. Durch die Fenster des Zimmers ergoß sich ein breiter roter Schein der untergehenden Sonne bis auf mein Lager hin. Es war Abend geworden. Vorsichtig hob ich den Kopf, da kam’s herbeigeschwebt, umflossen von der Röte des scheidenden Tageslichts … Das Leben kam, ein Mädchen mit blonden, schweren Flechten um das liebliche Gesicht, und eine Stimme, mitleidig sorgend und doch bestimmt, flüsterte:

„Rühren Sie sich nicht, Herr Referendar, der Herr Doktor hat’s streng verboten …“

Gehorsam ließ ich den Kopf zurücksinken und schloß die Augen – öffnete sie aber sofort wieder, von Neugier getrieben.

„Wo bin ich?“ fragte ich matt.

Das blonde Kind stand noch am Fußende meines Bettes. Warnend hob sie die Hand: „Wenn Sie mir versprechen, ganz ruhig zuzuhören, nichts zu fragen, dann will ich Ihnen erzählen, wie Sie hierher gekommen sind. Aber still müssen Sie liegen, ganz still.“

Ich versprach’s und erfuhr dann den Schluß meines Abenteuers. Meine Hilferufe, mehr noch das Geheul der Raubtiere waren doch gehört worden und zwar von einem Ihrer Herren Kollegen, Herr Oberförster, der gerade in Begleitung eines Revierförsters eine neu angelegte Aufforstung in der Nähe besichtigte. Meine Retter schlichen sich heran, da sowohl meine Hilferufe als auch das ihnen unbekannte Geheul sie zur Vorsicht mahnten. Und keine Minute kamen sie zu früh … Ich hatte richtig gehört – zwei Schüsse holten die beiden Leoparden von dem Baume herab und zwei weitere machten ihnen völlig den Garaus. Schwierig soll es gewesen sein, mich leblose Kreatur aus dem Baume ins Freie zu schaffen. Aber auch das gelang schließlich, und mit Hilfe einiger Waldarbeiter wurde ich dann in die nahe Försterei geschafft, ein Arzt herbeigerufen und mein halbzerfleischter Arm verbunden. – Das erzählte mir das blonde Töchterlein des Försters, während ich behaglich ausgestreckt in den Kissen lag. – Leider stellte sich bald ein gehöriges Wundfieber ein, und wohl nur meiner aufopfernden Pflegerin hatte ich es zu verdanken, daß ich bereits nach zwei Wochen nach X übersiedeln und auch kurze Zeit darauf wieder meinen Dienst antreten konnte. Eins bedauere ich heute noch: des Försters liebliche blonde Tochter war verlobt, sonst … wer kann wissen?! … Und damit ist meine Geschichte zu Ende.“

„Und wie kamen die beiden Leoparden in den harmlosen deutschen Wald?“ fragte schnell spöttisch lächelnd der Oberförster.

Körber zögerte einen Moment mit der Antwort.

„Hm … ja, wie gesagt, die Erklärung hierfür ist sehr einfach. Die Tiere waren an demselben Tage aus einer Menagerie entwichen, die mit ihrem Wagenpark die nach X führende Chaussee entlang fuhr. Der Wagen, der den Käfig der Leoparden bildete, hatte nämlich plötzlich ein Rad verloren, und durch das harte Aufschlagen des Wagenkastens waren die Schutzbretter der Rückwand aufgesprungen und – die Tiere schlüpften heraus und in den nahen Wald, wo die ausgehungerten Bestien dann mich als Opfer ausersahen, was ihnen notabene ja schlecht genug bekam. Denn sie mußten sich dafür das Fell über die Ohren ziehen lassen. Die beiden Felle liegen noch heute vor dem Schreibtisch meines Vaters als Andenken an die ‚gelbe Gefahr‘. – So, und nun, Herr Oberförster, seien Sie so freundlich und spendieren Sie mir etwas Alkoholisches. Die Erzählung hat mich doch recht angegriffen.“

Der alte Grünrock erhob sich bereitwilligst. Ich schloß mich den beiden an und wir schritten dem Hause zu, während das wirre Durcheinandersprechen der Gesellschaft hinter uns hertönte. – Schweigend gingen wir in des Oberförsters trauliche Studierstube, schweigend holte unser Gastgeber aus der Röhre des mächtigen, grünen Kachelofens eine dickbauchige Flasche hervor. Wir kannten sie. Es war ein selbstfabrizierter Wacholderschnaps darin, ein großartiges Getränk, von dem der Erfinder nicht mit Unrecht behauptete, daß es Tote lebendig werden ließ.

Unter andächtigem Schweigen floß der wasserklare Trank in die – Likörgläser zu sagen, wäre ein Unfug – Schnapsgläser, die gut ein zehntel Liter enthielten. Dann wollte mein halbverschmachteter Kollege nach dem Lebenselixier greifen. Aber schützend deckte der Oberförster seine wohlgepflegte und doch so sonnverbrannte Hand darüber.

„Halt!“ meinte er bedächtig – dabei zuckte es wieder so ironisch um die hellen, durchdringenden Augen. „Bevor ich Ihnen den Schnaps bewillige, Herr Assessor, müssen Sie mir ehrlich sagen: Haben Sie die Geschichte mit den Leoparden wirklich erlebt?“

Kollege Körber blieb völlig ernst.

„Jawohl, Herr Oberförster – ebenso wie Sie die Ihrige mit dem Kapitalbock und der dürren Eiche!“

„Donnerwetter,“ entfuhr es dem Grünrock bewundernd, „da können Sie wahrhaftig noch besser lügen als ich, und das will schon etwas heißen! Für die höchst anerkennenswerte Leistung haben Sie meinen Wacholder zweifellos verdient!“

Da der halbverschmachtete Kollege nicht einen, sondern zwei Leoparden herunterzuspülen hatte, wurde noch ein zweiter genehmigt; der dritte galt dem Kapitalbock. Inzwischen wird wohl unsere Gesellschaft draußen unter der Buche dem der „gelben Gefahr“ so glücklich entronnenen Körber einen Glorienschein um sein phantasievolles Haupt gewoben haben! – Viel Vergnügen!

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Die gelbe Gefahr (Reclams Universum, Jahrgang 33). Phillip Reclam jun., Leipzig 1917, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_gelbe_Gefahr.pdf/7&oldid=- (Version vom 12.10.2017)