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Rochus von Liliencron: Die_historischen_Volkslieder_der_Deutschen_vom 13. bis 16. Jahrhundert Band 1


von Engländern und Spaniern. Ein Lied auf den Ueberfall von Aurich 1609, welches anhebt: „Störtebeker und Godeke Micheel“, ist nicht nur im selben Ton gedichtet, sondern hat uns auch die ganze erste Strophe in der sonst verlorenen niederd. Fassung erhalten. Während also der bei weitem größte Theil der Lieder dieser Gattung vergessen ward, sobald das Ereigniß dem es entstammte, aufgehört hatte, die Gemüther zu beschäftigen, hat sich das Stortebekerlied den Rang eines bleibenden Volksliedes erworben, und bis in das vorige Jahrhundert fand man es auf Rügen, ja bis in unser Jahrhundert in Friesland im lebendigen Volksgesang. (S. unten S. 214.)

Der Inhalt des Liedes hat durch die anderthalb Jahrhunderte, welche zwischen seiner Entstehung und dem für uns ältesten Text liegen, etwas gelitten. Es stimmt gegen den Schluß vielleicht nicht mehr genau mit dem, was sich urkundlich nachweisen läßt. (Vgl. jedoch zu Str. 18 ff.) Ursprünglich hat es gewiß noch mehr anschauliche Einzelheiten enthalten; grade diese fallen aber immer der mündlichen Fortpflanzung solcher Lieder zum Opfer, indem sie vergessen werden oder zu allgemeineren Redewendungen verblassen, sobald die lebendige Bekanntschaft mit den betreffenden Personen, Gegenden und Umständen verschwindet.

1

Störzebecher und Gödiche Michael
die raubten beide zu gleichem teil
zu waßer und nicht zu lande,
biß daß es got vom himel verdroß,
des musten sie leiden große schande.

2

Sie zogen vor den heidnischen Soldan,
die heiden wolten ein wirtschaft han,
seine tochter wolt er beraten,
sie rißen sie splißen wie zwen wilde girn,
hamburger bier das trunken sie gerne.

3

Störzebecher der sprach alzuhand:
„die Westersee ist mir wol bekant,
das wil ich uns wol holen:
die reichen kaufleut von Hamburg
sollen uns das geloch bezalen!“

4

Sie liefen ostwärts bei langest das leich,
„Hamburg Hamburg nun tu deinen fleiß
an uns kannst du nichts gewinnen,
was wir auch wöllen bei dir tun,
das wolln wir bald beginnen!“

5

Das höret sich ein schneller bot,
der war von einem klugen rat,
er kam in Hamburg eingelaufen,
er fragt nach des eltsten bürgermeisters haus,
er fand den rat zu hause.

6

„Jr lieben herren all, durch got,
nemt dise red nicht auf für spot,
die ich euch wil sagen:
die feinde ligen euch harte bei,
sie liegen an wildem have.“


1,2. d.h. sie waren Likedeler; S. 210,6. 2,1–3. „Sie überfielen den Sultan bei der Hochzeit seiner Tochter“. Nach dem Fortsetzer von Detmars Lüb. Chronik segelten sie „under dat hilghe land to den berghete to Kaspien“ u.s.w. Das alles sind natürlich nur romantische Ausschmückungen, und auch unsere Zeilen mögen in ursprünglicher Fassung anders gelautet haben. 4,1. Vielleicht ein Küstenstrich Ostfrieslands, Ztschr. l. c. 286. Ist etwa „fliet“ zu lesen? eine Benennung von Wasserarmen, die an der fries. Küste oft vorkommt, und auf „flit“ V. 2 reimen würde. 6.5. Das w. Haff, etwa die Gegend vor der Elbmündung.

Empfohlene Zitierweise:
Rochus von Liliencron: Die_historischen_Volkslieder_der_Deutschen_vom 13. bis 16. Jahrhundert Band 1. Verlag von J. C. W. Vogel, Leipzig 1865, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_historischen_Volkslieder_der_Deutschen_(Liliencron)_I_211.gif&oldid=- (Version vom 31.7.2018)