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chemischen Eigenschaften der Körper notwendig fordern, die Kontinuität der Materie aufzugeben und die Materie als aus Elementarquanten in unstetiger Weise bestehend anzunehmen, so scheint mir um so mehr die Annahme dieses Systems geboten.

Hiernach ist ein Bewegungsvorgang für die Elektrodynamik die Bewegung einer Elementarladung durch den Raum. Es ist dies ein Vorgang, der noch vollständig in die Theorie ruhender Körper gehört. Denn daß sich ein Quantum Elektrizität bewege, und welche elektromagnetischen Wirkungen dadurch hervorgerufen werden, das vermag die Maxwellsche Theorie ohne weiteres zu behandeln. Solange es sich um geordnete Bewegungen handelt, d. h. die Komplikationen der Wärmelehre nicht mitspielen, ist es im allgemeinen vollständig ausreichend, die Bewegung einer einzigen Elementarladung zu verfolgen. Jedenfalls gehören die Erscheinungen, die auf der Wechselwirkung vieler Atome beruhen, zu denen, die eine genauere Behandlung vorläufig ausschließen.

Aus diesem Grunde ist auch das allgemeine Integral, das Lorentz[1] als Lösung seiner Gleichungen für die Wirkung der Bewegung beliebig vieler Atome benutzt, zwar für prinzipielle Untersuchungen von großem Werte, für die Behandlung des Problems der Bewegung eines einzelnen Elementarquantums, eines „Elektrons" weniger geeignet, weil es für diesen Spezialfall zu kompliziert ist. Infolgedessen ist auch die Theorie bewegter Elektronen über den bereits von Heaviside erledigten Fall, der Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit, nicht erheblich hinausgekommen. Von Wichtigkeit ist die zuerst eben falls von Lorentz eingeführte, dann von Abraham[2] auf Grund der Poincaréschen[3] „elektromagnetischen Bewegungsgröße" abgeleiteten Unterscheidung zwischen „longitudinaler" und „transversaler" Masse, deren quantitative Messung indessen auf Anwendung der Maxwellschen ponderomotorischen Wirkungen und demnach auf einer sehr wahrscheinlichen, aber nicht ganz hypothesenfreien Grundlage beruht.


  1. H. A. Lorentz, Théorie électrique de Maxwell et son application aux corps mouvants p. 119. Leiden 1892. Der erste Beweis dieses Satzes ist von Lorenz gegeben: Pogg. Ann. 131. p. 243 — 263. 1867.
  2. M. Abraham, Ann. d. Phys. 10. p. 105. 1903.
  3. H. Poincaré, Festschrift für H. A. Lorentz, p. 252. Leiden 1900.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Wien: Über die Differentialgleichungen der Elektrodynamik für bewegte Körper. I. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1904, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Differentialgleichungen_I_(Wien).djvu/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)