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muss den Betrachter überwältigen: der Betrachter darf nicht das Kunstwerk überwältigen. Der Betrachter muss empfänglich sein. Er muss das Instrument sein, auf dem der Meister spielen soll. Und je vollständiger er seine eigenen albernen Ansichten, seine eigenen törichten Vorurteile, seine eigenen dummen Ideen über das, was die Kunst sein soll und nicht sein soll, unterdrücken kann, um so geeigneter ist er, das Kunstwerk zu verstehen und zu würdigen. Das ist natürlich im Fall der Männer und Frauen, die das gewöhnliche Theaterpublikum bilden, ganz selbstverständlich. Aber es gilt ebensosehr für die sogenannten Gebildeten. Denn die Ideen eines Gebildeten über die Kunst sind natürlich aus dem genommen, was die Kunst gewesen ist, wohingegen das neue Kunstwerk dadurch schön ist, dass es ist, was die Kunst nie gewesen ist, und wer es mit dem Massstab des Vergangenen misst, legt einen Massstab an, auf dessen Ueberwindung gerade seine Vollkommenheit beruht. Ein Temperament, das die Gabe hat, vermittelst der Phantasie und im Reiche

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Oscar Wilde: Drei Essays. Karl Schnabel, Berlin 1904, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Drei_Essays_Oscar_Wilde.pdf/78&oldid=- (Version vom 31.7.2018)