Seite:Dudler und Dulder 55.jpg

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kann ihm den Genuß der künstlerischen Schöpfung höchstens verleiden. Außerdem kommt aber jene tief wurzelnde Verbitterung hinzu, die jedes empfängliche Herz ergreift, wenn es durch einen fremden Willen genöthigt wird, Zeit und Kraft auf einen Gegenstand zu verschwenden, der ihm innerlich fremd bleibt. Selbst der gefestigte Mann verkümmert in einem Beruf, dem er sich nicht gewachsen fühlt: um wie viel mehr das zartbesaitete, leichtverletzliche Kind!

Unserer Meinung zufolge hätte also die ausübende Tonkunst ihren bisherigen Anspruch auf den Titel eines integrirenden Bestandteil des Jugend-Unterrichts aufzugeben. Nicht allgemeine Wehrpflicht sei die Parole, sondern vereinzelte Aushebung nach strenger, vorurteilsloser Musterung. Das Musik-Talent ist, wie gesagt, etwas ganz Specifisches, das mit der sonstigen intellektuellen Begabung des Menschen nicht das Geringste zu tun hat. Individuen, die an Geist und Gemüt außerordentlich tief stehen, sind häufig nach irgend einer Richtung hin musikalisch veranlagt – und umgekehrt. Die nämliche Melodie, deren tongetreue Reproduktion dem klugen, feinfühligen und hochgebildeten Akademiker aller Bemühungen ungeachtet zum zehnten Male mißglückt, wird von dem flachköpfigen, ganz und gar banal construirten Schusterjungen beim erstern Anhören fehlerlos wieder gegeben. Selbst das kleine, windungsarme Gehirn eines Vogels reicht für diese kaum noch geistig zu nennende Leistung aus; denn Singvögel lernen gewisse Tonfolgen ganz korrekt nachpfeifen. Es handelt sich also hier um eine Specialfähigkeit von engster Umschriebenheit. Der Sprachgebrauch versteht beiläufig bemerkt, unter „musikalisch beanlagt“ sehr verschiedenartige Dinge, die man scharf trennen sollte. Musikalisch

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Ernst Eckstein: Dudler und Dulder. Leipzig, 1893, Seite Seite: Dudler und Dulder 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dudler_und_Dulder_55.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)