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bestritten werden, wobei natürlich unter Brahminentum nicht der götzendienerische Kultus und Aberglauben des modernen Hindutumes zu verstehen ist. Unter Brahminentum verstehe ich jene reine Lehre der arischen Eroberer Indiens, die den Teufels- und Schlangendienst der ersten Urbewohner Indiens verdrängte und die Grundlage jener alten Hierarchie von beispielloser Gewalt wurde, die sich zwar vor dem unwiderstehlichen Siegeszug des Indien reformierenden Buddhismus kurze Zeit beugte, ihn aber schließlich mit Hilfe der listigen Ausstreuung, der Reformator Buddha sei gar nichts anderes als eine Menschwerdung der brahminischen Gottheit Wischnu gewesen, überwand und überdauerte. Manche äußerliche Dinge der indischen Kulte, wie Rosenkranz und geweihtes Wasser, Weihrauch und Glockengeläut, mögen in die christlich-katholischen Religionsformen übergegangen sein, aber niemand kann die wichtigen Unterschiede der Lehren übersehen. Die brahminische Religion verlangt nicht, gleich der christlichen, den Glauben, daß sie selbst oder ihre heiligen Bücher, die Wedas und Puranas[WS 1], von Gott eingegeben seien; ebensowenig kennt sie einen Religionsstifter oder ein kirchliches Oberhaupt, ja, sie verlangt nicht einmal gemeinschaftliche gottesdienstliche Andachtsübungen und Gesänge, sondern überläßt es einem jeden, sich mit seinem Gotte privatim auseinanderzusetzen. Auch der Unterschied zwischen dem energielosen, fatalistischen Pessimismus, der das Wesen des aus dem Brahminentum hervorgegangenen Buddhismus ausmacht und dem rüstigen Wirkens- und Kampfesmut des Christentums fällt sofort in die Augen, obgleich das ethische Grundgebot des Buddhismus: stets Gutes zu denken, Gutes zu sprechen und Gutes zu tun den christlichen Lehrsätzen natürlich nicht widerspricht.

⅓.

¼.

In Kondscheweram glückte es mir, einer der wichtigsten, feierlichsten und geheimnisvollsten Kultushandlungen beizuwohnen, die der Schiwadienst kennt, und noch dazu an einer für Europäer im allgemeinen nicht zugänglichen Opferstätte dicht neben dem Tempelteich unter dem Schatten eines heiligen Bo-Baumes[WS 2]. Daß es sich hier um Schiwa-Verehrung handelt, zeigt das gewaltige Lingam-Idol, die abgerundete Steinsäule als Symbol der Schöpfernatur des Gottes Schiwa, der dadurch in seiner erhabensten Form als Mahadeva, d. h. als zwar zunächst zerstörende, aber zugleich mit der Gabe des Wiedererschaffens ausgestattete Gottheit verehrt wird; als Zeichen dieser gleichzeitig männlichen und weiblichen, aktiven und passiven Schaffenskraft ist das Lingam gewöhnlich, selbst bei den winzigen silbernen Lingams für den Hauskapellengebrauch, inmitten eines anderen Idols, der Yoni, angebracht, das als Symbol eben dieser gleichzeitig weiblich-produktiven Schaffensfähigkeit Mahadevas aufzufassen ist; aber nicht oft genug kann man sich daran erinnern, daß die Schöpfungen der bildenden Kunst der Indier in Bezug auf religiöse Dinge nur Symbole und Gleichnisse und nicht etwa die materiellen

Erscheinungen selbst auszudrücken versuchen. Die Phantasie der Hindus ist lebhaft genug, selbst aus ganz zufälligen Naturspielen ein Lingam-Abbild herauszufinden;

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Wedas und Puranas: vergleiche Veda und Puranas
  2. WS: Bo-Baum: vergleiche Bodhi Tree (en) sowie Pappelfeige (Ficus religiosa)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/146&oldid=- (Version vom 1.7.2018)