Seite:Durch Indien ins verschlossene Land Nepal.pdf/149

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

so wird z. B. jeder Donnerkeil oder sonstiger, etwa durch Wassergewalt konisch abgeschliffener Stein von den Hindus als Lingam verehrt. Die große Masse hat freilich die eigentliche Bedeutung des Lingam vergessen, und für diese ist es tatsächlich zum toten Götzen geworden.

Das Lingam-Opfer eines Brahmanen.

Das Bild stellt den Augenblick dar, wo der Brahmane dem Lingam durch andächtiges Begießen desselben mit Ghi[WS 1], d. h. geklärter Butter, opfert, die bei allen Kultushandlungen der Hindus als ein von der heilig geachteten Kuh stammendes Produkt eine wesentliche Rolle spielt. In dem dargestellten Falle war demnach das Opfer nicht eine der alltäglichen Huldigungen, die das Lingam durch Übergießen mit heiligem Gangeswasser und durch Bestreuen mit Blumen und Reiskörnern erfährt, sondern es sollte dadurch den Wünschen und Hoffnungen der Angehörigen der beiden kleinen Mädchen Ausdruck gegeben werden, die sich auf deren kürzlich stattgefundene Vermählung bezogen; diese Wünsche gipfeln darin, daß der Ehebund dereinst in erster Linie mit männlicher Nachkommenschaft gesegnet werde, ein Wunsch, der seine Erklärung in dem zum Gesetz gewordenen Brauch findet, daß nur ein männlicher Nachkomme die Trauerfeierlichkeiten für abgeschiedene Verwandte leiten und den Scheiterhaufen, worauf deren Leichen verbrannt werden, in Brand setzen darf.

Vor, während und nach diesem feierlichen Schmücken und Begießen des Lingam und Yoni-Idoles muß der opfernde Brahmane halblaut Stellen aus den heiligen Schriften hersprechen, die sich auf ein glückliches Eheleben beziehen, wobei er, solange er nicht mit der Opferhandlung beschäftigt ist, mit in genau vorgeschriebener Weise untergeschlagenen Beinen, deren Fußflächen nach oben zeigen, niedersitzen und während der Rezitationen mit seinen Fingerspitzen die mehrerwähnten Idole nachbilden muß.

¼.

Selbst der Löffel und das Gefäß, womit die Opferflüssigkeit über das Lingam gegossen wird, erinnern an religiöse Vorstellungen; der Stil des ersteren stellt den auf Schlangen ruhenden Gott Wischnu dar, während die Einlage von Kupferstreifen in das Bronzegefäß die Vereinigung der Dschamna[WS 2] mit dem heiligen Ganges, also eine symbolisierte Vermählung bedeutet, die dem Kenner zugleich sagt, daß das Gefäß in Allahabad[WS 3] für seine Bestimmung geweiht wurde.

Bei einer solchen Kindervermählung handelt es sich zunächst nur um eine vorläufige Trauung, um eine allerdings unlösbare Verlobung der jungen Leute, die sich nach Beschluß der beiderseitigen Eltern und deren Berater zu heiraten haben, sobald sie erwachsen sind; über diese wichtigste Angelegenheit der indischen Kultur denke ich im sechzehnten Kapitel nähere Mitteilungen zu machen.

Im Lebenslauf jedes Hindus, und vor allem natürlich bei den Kultushandlungen der Brahmanen, ist jede Kleinigkeit durch uralte Vorschriften aufs

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Ghi: vergleiche Ghee
  2. WS: Dschamna: vergleiche Yamuna
  3. WS: Allahabad: vergleiche Allahabad
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/149&oldid=- (Version vom 11.7.2018)