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genaueste geregelt, und ein Verstoß gegen dies Zeremoniell ist undenkbar; selbst wenn Angehörige der Brahmanenkaste heutzutage nicht mehr dem Priesterberufe obliegen, sondern bürgerlichen Gewerben nachgehen, wie z. B. unter den Kaufleuten und Beamten Brahmanen zahlreich vertreten sind, gelten für diese die strengen Satzungen ihres Kastenrituals, deren genaue Befolgung den Vorzug sichert, die weiße Schnur um Schulter und Hüfte tragen zu dürfen, die allein den Brahmanen zukommt; dieses Abzeichen verleiht ihnen überall eine Ausnahmsstellung, selbst im Gefängnisse, wo die Speisen für gefangene Brahmanen in einer besonderen Küche von Brahmanen zubereitet werden und wo selbst die einem Brahmanen etwa verordneten Prügel nur von Kastengenossen verabreicht werden dürfen. Die indische Regierung mußte sich nämlich vor etwa 20 Jahren zur Wiedereinführung der Prügelstrafe entschließen, weil deren Abschaffung von Faulpelzen ausgebeutet worden war, um sich durch Verübung von Freveltaten auf Staatskosten beherbergen und füttern zu lassen.

Betender Brahmane.

Die Brahmanenkaste zerfällt gleich jeder der anderen drei Hauptkasten in zahlreiche, ebenfalls streng voneinander geschiedene Dschatis[WS 1], d. h. Gilden oder Sekten, die sich durch mehr oder weniger buchstäbliche Erfüllung der Kastengesetze unterscheiden. So wird z. B. von den vorgeschriebenen drei täglichen Religionsübungen nur die am frühesten Morgen tatsächlich von allen Brahmanen erfüllt, dagegen verzichten alle weniger streng Gesinnten am Abend und zu Mittag auf diese vier Stunden Zeit raubenden, höchst umständlichen Andachtsverrichtungen.

Ohne bis in die letzten Tiefen dieses großartigen, geheimnisvollen Zeremoniengebietes eindringen zu wollen, möchte ich wenigstens in aller Kürze einiges von den Kultushandlungen erzählen, die in frühester Morgendämmerung beginnen, aber in dem Augenblick beendet sein müssen, wo das junge

Tagesgestirn am Horizonte emporsteigt. Viele Indienbesucher können hierüber von in Indien lebenden Europäern keine genauere Auskunft erlangen,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Dschati: vergleiche Kaste, Jati, besser Jāti (en)
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Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/150&oldid=- (Version vom 12.7.2018)