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nur jede der Hauptgottheiten der dreigeteilten Einheit Trimurti[WS 1], nämlich Brahma, Schiwa und Wischnu, sondern auch das große, unbekannte, ewige, den gesamten Makrokosmus ausdrückende Wort „Es“ andeuten soll. Dieser gewichtigen Anrufung folgt die ebenso feierliche von Erde, Luft und Himmel.

Unter tiefen Verneigungen gegen Osten beginnt dann die Haupthandlung, die Begrüßung der Morgenröte, die mit den andachtsvollen Worten beginnt: „Ich verehre diesen Abglanz des alleinigen Schöpfers, der in mir fromme Betrachtungen entzündet!“ Selbst der Inhalt dieser eben genannten Redewendung, dieser Begriff der Gottesverehrung im Bilde der aufgehenden Sonne verkörpert sich für den Hindu zu einer eigenen Gottheit; diese Gajatri genannte Göttin[WS 2], wird unter der Gestalt eines schönen jungen Mädchens verehrt, das mit dem fortschreitenden Tage zur Greisin altert, wobei sich ihre helle Hautfarbe ständig dunkler schwärzt, und auch dieser Göttin widmet der Brahmane besondere „Sandya“[WS 3], Gebete oder Lobgesänge, indem er in seiner Rezitation folgendermaßen fortfährt: „Ich will jetzt die Sandya vollziehen und die Göttin Gajatri anbeten! Ich will mich dadurch dem höchsten Wesen, dem Brahma, dem Inbegriff alles Seins, angenehm machen, um Befreiung von meinen Sünden zu erlangen.“

Alte Lota aus Kupfer mit herausgehämmerken Tier- und Pflanzenornamenten. 3/10.

Es würde ein eigenes Buch geben, den weiteren Verlauf der religiösen Reinigung der Brahmanen sowie dessen schließliche Selbsttaufe mit bestimmten Güssen über Kopf, Brust, Rücken und Schulter aus einer „Lota“[WS 4] genannten Bronze-, Kupfer- oder Silberschale und andere mit dem Morgengottesdienst verbundene religiöse Handlungen durchzugehen; die sonderbarste, fast unglaublich klingende Maßregel dieser Art ist jedoch die Reinigungsförmlichkeit, die nötig wird, wenn ein streng denkender Brahmane das Unglück gehabt hat, von einem Kastenlosen oder, was ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer ist, von einem Europäer berührt zu werden. Wäscht sich selbst der mildestdenkende Brahmane sorglich die Hand, die wir ihm etwa beim Abschied in herzlicher Freundschaft gedrückt haben, so muß ein strenggläubiger Brahmane in seinem inbrünstigen Verlangen nach gründlicherer Reinigung eine ganz besonders wirksame Pille verfertigen und hinunterschlucken, für die ebenfalls nur Produkte der heiligen Kuh in Betracht kommen: rohe und geklärte Butter, weicher, weißer Kuhkäse und gedörrter, zerpulverter Kuhdünger nebst Asche von verbranntem Kuhdünger zum schließlichen Vestäuben der zierlich gedrehten Reinigungspille; diese Materialien trägt ein solcher Reinigungsfanatiker jederzeit in einer fünfteiligen, aus Bronze gearbeiteten Dose in den Falten seines Lendenschurzes bei sich. Auch mein bereits genannter Gastfreund Wiswanatha

Aiyar[WS 5], einer der aufgeklärtesten Brahmanen, die ich kenne, empfing mich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Trimurti: vergleiche Trimurti
  2. WS: Gajatri: vergleiche Gayatri (Göttin)
  3. WS: Sandya: vergleiche Sandhyavandanam (en)
  4. WS: Lota: vergleiche Lota (vessel) (en)
  5. WS: Wiswanatha Aiyar: vergleiche Vishwanath (de, der Vorname) und Iyer (en, die Kaste)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/152&oldid=- (Version vom 1.7.2018)