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die Schwester seiner Frau die Wirtschaft führe, die er, sobald die Trauerzeit um sei, wahrscheinlich ebenfalls heiraten würde, da kein Hindumann unbeweibt bleiben solle; die Asketen-Sekten, die den Freuden der Ehe entsagen, bilden die einzige Ausnahme von dieser Regel.

Ich ersuchte den Brahmanen, der noch immer in dem Frauengemach versteckten Gemahlin in spe meine ergebensten Empfehlungen mit der Bitte zu übermitteln, mir zu einem Porträt zu sitzen, errang aber erst nach einem wahren Hagel von ablehnenden Körben die Erlaubnis, die braune Dame, jedoch nur inmitten der ganzen Familie, abbilden zu dürfen; vielleicht glaubte sie, daß eine drohende Gefahr in Gesellschaft leichter überstanden werden, kann als allein. Da die beiden Töchter des Brahmanen gerade bei einem Brettspiel mit Bohnen als Zahlmittel beschäftigt waren[WS 1], ergab sich die Gruppierung ganz von selbst.

Der Brahmane hatte für die Aufnahme einen blendendweißen Musselinschurz angelegt, und schickte sich an, seine Schwägerin aus ihrem Gemach zu mir herauszuführen. Ich war darauf gefaßt, daß das derzeitige Fräulein Vizefrau so sanft und ruhig auf der Bildfläche erscheinen würde, wie dies eine nordindische Hindufrau sicherlich getan hätte. Wie betroffen war ich deshalb, als durch die Tür, die der Brahmane kaum geöffnet hatte, eine nur mittelgroße, aber wahrhaft kraftstrotzende junge Tamulin wie aus einer Pistole geschossen auf mich losgerannt kam, dicht vor mir Halt machte und mich mit beinahe wilden Blicken fest ansah. So stand sie, da, wie aus Bronze gegossen, und ich fürchte, daß ich im ersten Augenblick vor lauter Verblüfftheit den Mund unziemlich weit aufgesperrt habe. Ich war tatsächlich von dieser Temperamentsprobe so überrascht, daß ich kaum auf die Einzelheiten der ungewöhnlichen Erscheinung zu achten vermochte, auf ihr dunkelrotes, reich mit Gold besticktes Jäckchen und ihr kurzärmeliges Gewand unter einem seidenen Tuch in hellerer roter Tönung; auch ihre Schmuckverzierungen, besonders die der Füße und Zehen, waren von hervorragender Schönheit.

Fast trotzig, aber ohne viel Umstände nahm die Dame den Platz ein, den ich ihr vorschlug, zuckte bei der Aufnahme mit keiner Wimper, sprang aber, sobald mein „fertig“ erklang, empor und eilte, ohne sich aufzuhalten oder noch einmal nach mir umzusehen, wie ein scheues Reh wieder in ihre Stube. Ob der Widerstreit zwischen grundsätzlicher Abneigung gegen jeden Europäer und Nachgiebigkeit gegen die Wünsche des Brahmanen, zwischen abergläubischer Scheu vor dem Photographiertwerden und der Neugier, auch einmal zu erfahren, wie dies Vergnügen schmecke, oder ob gar Mitleid mit meinem inständigen Gebettle ihr halb sprödes, halb freundliches Benehmen veranlaßt hat, vermag ich nicht zu enträtseln.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Brettspiel mit Bohnen: im Bild ist ein Mancalabrett zu erkennen
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Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/155&oldid=- (Version vom 1.7.2018)