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Der freundliche Leser möge sich jedoch gefälligst selbst in diese Schnadahüpfl-Schätze[WS 1] vertiefen, in denen das indische Volksleben aller Stände seine innerste Seele ausströmt und bald in naiver bald in geistvoller Weise zeigt, wie dieses Volk zur Zeit seines geistigen Höhestandes geliebt und empfunden, gedacht und genossen hat. Daß aber der Indier durchaus nicht so stumpf für Naturschönheit ist, wie manche argwöhnen, bezeugen Gedichte wie desselben Halas „Einzug des Lenzes“, das ich ebenfalls in Brunnhofers Übertragung zitiere:

Ordnet den Festzug und schmückt euch mit Kränzen,
Flechtet Guirlanden und streichet frisch an!
Niemals selbst bei eines Fürsten Empfahn
Bricht unter Jubeln und Spielen und Tänzen
Also die Freude des Volkes sich Bahn,
Wie bei dem jährlichen Einzug des Lenzen!

Ich komme förmlich in Versuchung, den indischen Dichtergarten nach Herzenslust zu plündern und eine Blumenlese, zumal aus den erotischen Liedchen, wie sie die Bajaderen zwitschern, hier einzuflechten, begnüge mich jedoch, in der Hoffnung, recht viele Leser zum stillen Genuß der erwähnten Sammlungen indischer Geistesschätze angeregt zu haben, von dieser Gattung nur Kalidasas[WS 2] von Leopold von Schröder übertragene Verse anzuführen:

O Mädchen mit den Lotusaugen,
Schau mich noch einmal wieder an,
Vielleicht, daß ich von meinen Leiden
Durch deinen Blick genesen kann.
Ich hört’ es oftmals schon erzählen,
Daß Gift bekämpfet wird durch Gift:
Die Krankheit, die dein Blick erzeugte,
Sie heilt, wenn neu dein Blick mich trifft!

Sollte jemand aber gar grämlich werden, daß ich dieses Werk mit poetischen Federchen ziere, dem rufe ich mit dem fröhlichen Spotte des Sregarasatakas[WS 3] zu:

Der Weise sitzt versunken ganz;
In ihm strahlt hehren Wissens Glanz.
Rehäuglein kommt und schielt ihn an:
Gleich ist’s um seinen Witz getan! —

Doch kehren wir zu unseren Künstlerinnen zurück.

Höheres Alter ist zwar stets etwas Achtung Gebietendes, bei Tänzerinnen, die ungeschminkt im grellen Sonnenschein stehen, legt man aber wenig Wert auf besonders hohe Semesterziffern. Angesichts der bunt durcheinander gewürfelten Jahrgänge wagte ich deshalb den Versuch, wie ein Feldwebel die ganze Amazonenschar zunächst erst einmal gründlich zu rangieren,[WS 4] d. h. die mir für die Aufnahme erwünschten aus der dichten Masse herauszuziehen und seitwärts treten zu lassen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Schnadahüpfl: vergleiche Schnaderhüpfl
  2. WS: Kalidasa: vergleiche Kalidasa
  3. WS: Sregarasatakas: gemeint wohl das Srngara-sataka von Bhartrihari
  4. WS: rangieren: vergleiche Rangieren, hier arrangieren
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/181&oldid=- (Version vom 1.7.2018)