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stilisierten Blütenteile, die das Portal als Zierlinien umranken, oder die zu einem wundervoll gemusterten Bande durch- und ineinander geflochtenen arabischen Schriftzeichen, mit denen das ganze Tor in Gestalt von Koranfprüchen umsäumt ist, in voller Treue wiederzugeben.

Wir treten aus dem draußen sengenden Sonnenglanz in die kühlen, schattigen Hallen des Tordurchganges, dessen entgegengesetztes Portal zugleich den Rahmen für die jenseits ausgebreitete Landschaft abgibt, für einen Anblick, der auf Erden nicht seinesgleichen hat und geradezu das Ideal jedes seine Kunst wahrhaft liebenden Landschaftsgärtners genannt werden muß.

Tadsch-Mahal in Agra.

Wie auf allen Gebieten der Kunst Einfachheit und Reinheit des darstellenden Empfindens immerdar das Größte und die edelsten Wirkungen schafft und unvergleichlich viel nachhaltiger erquickt und erhebt als ausgeklügelte Spitzfindigkeiten, so prägt sich auch dieser erste Anblick des Tadsch für alle Zeit in die tiefste Seele des Beschauers. Es ist nicht möglich, starres Material in erhabenere und zu gleich anmutigere Formen zu zwingen, als durch diesen ungeheuren, mehr als 70 Meter hohen Bau, dessen schneeweiße, von bläulichem Geäder belebte Massen in den Jahren 1630 bis 1647 mit titanischen Kraftanstrengungen aus der Ferne herbeigeschafft, zusammengetürmt und schließlich mit den zierlichsten Linienführungen, über die der Formenschatz mohammedanischer Baukünstler verfügte, und mit Hilfe der kostbarsten Steine Indiens geschmückt wurden. Lebenden Wesen bauschmückende Motive zu entlehnen oder gar, menschliche Figuren zur Ausschmückung von Kultusbauten zu verwenden ist dem Islam verboten, und deshalb sind den Mohammedanern brahminische Hindutempel dermaßen ein Greuel, daß z. B. der Eroberer Aurungzeb allen erreichbaren indischen Tierfiguren mythologischer Art die Köpfe weghauen ließ. Die Muster, in denen die Hauptumrisse des Tadsch durch Linienornamente aus stilisierten Blumengewinden oder Zweigen des Lebensbaumes hervorgehoben

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Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/200&oldid=- (Version vom 1.7.2018)