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welcher Inbrunst beugt sich dann jeder in dieser unabsehbaren Schar, sobald der Ruf Allah o Akbar, „Gott ist groß!“, vom Minaret erschallt, dem Beispiel des Vorbeters folgend und nach West gerichtet, zweimal zum Erdboden nieder, so tief, daß die Stirn den Erdboden berührt! Fürwahr, wer solche Äußerungen einer alle mit gleicher Glut durchdringenden Glaubensfreudigkeit und unerschütterlichen religiösen Zuversicht wahrgenommen hat, der darf den Islam nicht als eine ohnmächtig werdende Lehre mißachten.

Wurden die Bewohner Delhis in älteren Zeiten durch die Einfälle der Mohammedaner gequält und geplündert, so litten sie im neunzehnten Jahrhundert nicht weniger durch die Eroberungsgelüste der Engländer, die sich im Jahre 1803 zu Herren der Stadt machten und ihren Stolz darein setzten, gerade von diesem Hauptsitz indischer Kaisergewalt aus im Jahre 1877 die Königin Viktoria als Kaiserin Indiens auszurufen[WS 1], wie ja auch hier 1903 die Krönung König Eduards[WS 2] mit Aufwand von vielen Millionen gefeiert werden soll[WS 3], während der hoffentlich das Gespenst der Hungersnot seine Würgerarbeit einstellt. Wenig will freilich zu diesem Stolze die historisch feststehende Tatsache passen, daß hier in demselben Delhi der letzte Kaiser von Indien samt seinen beiden Söhnen nach dem Fehlschlagen des indischen Aufstandes im Jahre 1857 durch ein Bubenstück ohnegleichen aus der Welt geschafft wurde. Grimmiges Entsetzen über die Skrupellosigkeit, der die englische Realpolitik ihre Riesenerfolge verdankt, muß jeden überkommen, der erfährt, wie unsagbar brutal und feige damals ein englischer Offizier[WS 4] diesen Kaiser Bahadur Schah[WS 5] und die beiden ebenfalls unbewaffneten jungen Prinzen aus nächster Nähe mit Pistolenkugeln niederknallte[WS 6], als sie im blinden Vertrauen auf das feste englische Versprechen, daß ihr Leben geschont werden solle, aus dem Mausoleum Hamuyans[WS 7] hervorkamen, das ihnen als sicherer Schlupfwinkel gedient hatte. An diesen Aufstand wird man in Delhi auf Schritt und Tritt gemahnt, sei es durch das von den Kugeln der Hindus zerschossene Kreuz einer Kirchturmspitze, sei es durch die Bresche, die die Engländer unter Aufopferung zahlreicher treugebliebener indischer Sipeutruppen[WS 8] in das Kaschmirtor[WS 9] sprengen ließen, um Delhi stürmen zu können.

Das düstere Mausoleum Hamuyans gilt ebenfalls als eine Sehenswürdigkeit der ferneren Umgebung Delhis, weit mehr aber noch der rätselhafte Kutub-Minar-Turm[WS 10], dessen Querschnitt eine höchst wunderliche Mischung spitzwinkliger Erker und Rundungen darstellt; über den Zweck und die Herstellung dieses Riesenturmes gehen die Ansichten der brahminischen und mohammedanischen Hindus weit auseinander, indem erstere behaupten, er sei ursprünglich von einem brahminischen Fürsten errichtet worden, damit seine Tochter früher als alle anderen Bewohner Delhis den Sonnenaufgang begrüßen könne, während die Mohammedaner versichern, er sei von Anfang an als Minaret erbaut und mit Koraninschriften verziert gewesen und nach und nach durch stetig schlanker werdende Aufsätze verlängert worden.

Das Ersteigen der 378 Stufen dieses Turmes gehört ebenfalls in das

unabänderliche Programm jeder Gesellschaftsreise durch Indien. Doch hatten in

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Königin Viktoria: vergleiche Victoria, regierte 1837–1901, ab 1876 als Kaiserin von Indien
  2. WS: König Eduard: vergleiche Eduard VII., regierte 1901–1910
  3. WS: Kaiser-Proklamationen: weder Viktoria noch Eduard erschienen zu ihrer Kaiser-Proklamation in Delhi
  4. WS: englischer Offizier: vergleiche William Hodson
  5. WS: Bahadur Schah und Prinzen: vergleiche Bahadur Shah II., regierte 1838-1857
  6. WS: Schah und... Prinzen... niederknallte: vergleiche Khooni Darwaza (Blut-Tor), dort schoß Hodson nicht wie hier behauptet, den Schah und die zwei Prinzen nieder, sondern zwei (von sechzehn) Prinzen mit einem Enkel: Mirza Mughal, Mirza Khizr Sultan und Mirza Abu Bakht. Der Schah und ein Großteil seiner Familie überlebten die Niederschlagung des Aufstands.
  7. WS: Mausoleum Hamuyans: vergleiche Humayun-Mausoleum
  8. WS: Sipeutruppen: vergleiche Sepoy
  9. WS: Kaschmirtor: vergleiche Kashmiri Gate, Delhi (en)
  10. WS: Kutub-Minar-Turm: vergleiche Qutb Minar
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/205&oldid=- (Version vom 1.7.2018)