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Diese Allee und dieses Sutti Tschaura Ghat, wo ankommende und abgehende Gangesboote anzulegen pflegen, müssen für jeden einigermaßen mit indischen Begebenheiten Vertrauten ein wehmutsvolles Interesse haben und bewegten auch mich bei meinem Aufenthalt im innersten Gemüte. Diese schattige Allee war am 27. Juni 1857 die Todesstraße gewesen, worauf die englische Besatzung Kahnpurs, die sich 23 lange Tage gegen die aufständischen Sipeus unter Nana Sahib[WS 1] in einem baufälligen Hospital tapfer verteidigt und gehalten hatte, an den Strom flüchteten, um sich nach Allahabad einzuschiffen; sie vertrauten dabei auf das Versprechen freien und bewaffneten Abzuges, das ihnen Nana Sahib gegeben hatte, als er anfing, einen siegreichen Ausgang seiner Sache zu bezweifeln. Übermannt von dem Wunsche, an den verhaßten, nach Gold und Land lüsternen Fremden volle Rache zu nehmen und durch ihre Ausrottung für alle Zukunft ein warnendes Exempel zu stiften, ließ er sich jedoch zum Wortbruch hinreißen, verbarg einige hundert indische Schützen und ein paar Kanonen in den Büschen beim Einschiffungsplatze und ließ, nachdem er den Engländern nebst ihren Frauen und Kindern den Rückzug durch jene Allee abgeschnitten hatte, ein mörderisches Feuer gegen die bereits in die Boote steigenden Flüchtlinge eröffnen; nur vier Personen entrannen dem Gemetzel, um die Trauerkunde davon nach Allahabad zu bringen und eine Rache-Expedition nach Kahnpur in Bewegung zu setzen.[WS 2] Wie diese britischen Rächer später an Schuldigen und Unschuldigen gewütet haben, indem sie jeden erreichbaren Teilnehmer oder Zuschauer der furchtbaren Mordtat unter gräßlichen Qualen umbrachten, vermag keine Feder zu beschreiben. Freilich mußte ihr Rachedurst beim Anblick eines tiefen, nunmehr überdeckten Brunnenschachtes, der jetzt durch einen Marmorengel mit den Palmen des Märtyrertums und des Sieges in den Händen geschmückt ist,[WS 3] aufs äußerste erregt werden, da in diesen Nana Sahib die ermordeten Frauen und Kinder hatte hineinwerfen lassen, unter denen sogar einige noch Zeichen des Lebens von sich gegeben haben sollen. Es steht jedoch fest, daß von den Hindus keine anderen Schandtaten an diesen beklagenswerten Opfern des Aufstandes verübt wurden.

So erschütternd dieses furchtbare Gemetzel von Kahnpur auch ist, darf man doch nicht vergessen, daß frühere Kriegszustände in Indien noch weit fürchterlichere Grausamkeitshandlungen asiatischer Heerführer im Gefolge hatten, auch wird oft übersehen, daß es sich bei diesem ganzen Aufstande keineswegs nur um eine Empörung wegen irgend welcher Kleinigkeiten handelte; oft wird z. B. das beim damaligen Laden erforderliche Abbeißen der mit einem Gemisch von Rinds- und Schweinetalg eingefetteten Patronen, das brahminischen wie mohammedanischen Sipeus gleich widerlich sein mußte, als Grund der Meuterei angeführt, in Wahrheit stellte aber diese wohldurchdachte, jedoch ungeschickt und übereilt durchgeführte Erhebung der indischen Soldateska den letzten krampfhaften Ausbruch indischen Nationalgeistes dar, der sogar die sonst stets gegeneinander gehetzten

Hindus und Moslems zu einer einzigen, um Befreiung des heimischen Bodens ringenden Macht vereinigte, deren Niederschlagen den Engländern bei aller

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Nana Sahib: vergleiche Nana Sahib
  2. WS: nur vier Personen entrannen dem Gemetzel: vergleiche Satichaura Ghat massacre (en). Die Darstellung ist nicht ganz korrekt: Es überlebten vier britische Soldaten. 120 ebenfalls überlebende Frauen und Kinder wurden später im Bibighar massacre ermordet und in einen Brunnen geworfen. Ob Nana Sahib die Massaker befohlen hat, ist umstritten.
  3. WS: Marmorengel: Bild, vergleiche Kanpur Memorial Church (en)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/215&oldid=- (Version vom 11.7.2018)