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Tapferkeit, nur durch außerordentliche Glücksfälle gelang, wobei es für sie von größtem Vorteil war, daß einige der mächtigsten indischen Staaten, wie z. B. Nepal, von dem ich später viel zu reden habe, sich nicht dem Aufstande gegen England anschlossen, sondern diese Macht sogar unterstützten. Die wahre Ursache, wodurch der schon seit langen Jahren gärende Groll zum gewaltsamen Ausbruch gereizt wurde, war die ebenso unberechtigte wie brutale Annektierung des Königreichs Audh[WS 1] mit den beiden als große Garnisonen ins Auge gefaßten Hauptstädten Kahnpur und Laknau, sowie die Entthronung des Königs von Audh unter der Begründung, daß der sittenlose Lebenswandel dieses Königs von den Engländern nicht mehr länger geduldet werden könne! Selbst maßgebende englische Stimmen haben diesen rechtlosen Länderraub als einen unverantwortlichen Fehler bezeichnet, und nirgends weniger als beim Untergang des Königreichs Audh können die Engländer von einer ehrlichen Eroberung sprechen.

Diese furchtbaren Zustände und Ereignisse lagen mir im Sinn, als ich jene mit so viel Blut getränkte Stelle am Gangesufer mit prüfendem Blicke überschaute.

Ich hielt es zunächst für eine Täuschung meiner erregten Sinne, als es mir schien, daß in der Allee und in der Umgebung des Ghats eine allmählich zunehmende Bewegung der dort bisher ruhig verweilenden Massen einträte, ja, daß sich diese dann sogar in der Richtung auf mich und meinen Standpunkt hin fortzupflanzen begann. Noch ehe ich mich in der Besorgnis nahenden Unheils von meinem weit in den Flußlauf hineingebauten Standplatz, auf dem mich von drei Seiten Wasser umgab, fortbegeben konnte, war die von der Landseite her stetig gegen mich anschwellende und langsam vorwärts drängende Menschenwoge so weit vorgerückt, daß nur noch wenige Quadratmeter Raum um mich herum von nackten Büßern und anderen Pilgern in allen erdenklichen Trachten frei blieben. Die Leute in den vordersten Reihen, die ich immer energischer zum Stillstehen zu veranlassen trachtete, um nicht mit meinem Apparat schließlich in das hinter und neben mir in der Tiefe vorbeiflutende lehmige Gangeswasser gedrängt zu werden, machten mir durch nicht mißzuverstehende Gesten klar, daß sie gegen den von hintenher ausgeübten Druck der Nachdrängenden vollkommen machtlos seien. Ich befand mich demnach in der verzwicktesten Lage, die man sich vorstellen kann, da gar keine offene Gewalttat gegen mich vorlag, und weil die Leute ihre Annäherung ganz gut mit hochgradiger Neugier wegen meines ihnen auffallenden Hantierens mit dem Apparat entschuldigen konnten.

Mein mohammedanischer Diener, dessen Anwesenheit auf dem nur für Gläubige bestimmten Platze nicht weniger als die meinige den zu festlichen Zeiten stets besonders empfindlichen Hindus gewiß ein gewaltiger Dorn im Auge gewesen war, hatte sich gerade am Ufer etwas zu schaffen gemacht und war durch die nicht etwa drohend wild, sondern scheinbar fast unfreiwillig vorwärts schiebende schnatternde und gestikulierende Menge von mir abgedrängt und

gehindert worden, sich wieder mit mir zu vereinigen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Audh: vergleiche Avadh
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/216&oldid=- (Version vom 1.7.2018)