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Viele Europäer in Indien sprechen von dem Frauen- und Eheleben der Hindus nie, ohne dabei über den angeblich zu Tage tretenden Fanatismus der Brahmanen und andere Greuel zu schelten, wobei sie allerdings von einer Anzahl von Hindus, die auf eine oder andere Weise für die englischen Anschauungen gewonnen sind, unterstützt werden; betrachtet man aber diese Verhältnisse ohne Voreingenommenheit, so sehen sie wesentlich anders aus.

Den Engländern in Indien gebührt zwar das Verdienst, sich bestrebt zu haben, den indischen Frauen durch Förderung des Missionsschulwesens und noch mehr durch Ausbildung und Einführung weiblicher Ärzte, sowie durch Verhinderung der Witwenverbrennungen Wohltaten zu erweisen. Diese können aber nicht eher als eine durchgreifende Verbesserung in dem Zustand der weiblichen Bevölkerung angesehen werden, als bis nicht das Pördasystem[WS 1], d. h. die mehr oder weniger vollständige Zurückhaltung der Frauen in den Gemächern der „Senana“[WS 2], von den Hindus wieder abgeschüttelt worden ist, da sie ebensowenig wie die Vielweiberei, die heutzutage bei brahminischen Hindus allerdings kaum noch vorkommt, der altindischen, d. h. arischen[WS 3], Kultur eigen gewesen ist, sondern von den Hindus den mohammedanischen Eindringlingen nachgeahmt wurde. Ganz im Gegensatz zu dem idealistischen Brahminentum ist aber der Islam eine sinnlich-materielle Religion, und sicherlich mögen die Mohammedaner Ursache gehabt haben, ihre den Sklaven gleich gerichteten Frauen argwöhnisch und eifersüchtig durch Pördas, d. h. Vorhänge, gegen die Blicke anderer Männer abzuschließen. Von den alten Hindus berichtet uns dagegen die Sanskritliteratur, daß sie der Frau unbegrenztes Vertrauen und eine ebenso hohe, geachtete Stellung einräumten, wie wir dies tun. Freilich mag auch die Besorgnis der Hindus vor den Lüsten der mohammedanischen Eroberer zum Verbergen der Frauen und zu möglichst frühzeitigem Versorgen der Mädchen mit einem Beschützer beigetragen haben.

Das eine steht jedenfalls fest: die häusliche Tüchtigkeit, die Selbstlosigkeit, Herzensbildung und Opferwilligkeit der Hindufrau ist über jedes Lob erhaben, und ihre Religiosität ist, wie dies bei ihrem reichen Gefühlsleben begreiflich ist, fast grenzenlos. Aber ebenso unzweifelhaft mangeln ihr auch wissenschaftliche Kenntnisse und durchgreifende Verstandesbildung, was wohl mit dem alten, möglicherweise durch die Brahmanen genährten Aberglauben zusammenhängt, daß viel Wissen einer Frau schade, ja sie sogar in Gefahr bringe, frühzeitig Witwe zu werden! Gemeint ist damit, daß die einer beträchtlichen Geistesbildung zugewendete Zeit und Mühe eine Vernachlässigung des materiellen Wohles der Familie und der Wohlfahrt und Pflege von dessen Oberhaupt zur Folge haben könne.

Vom Standpunkt eines Familienvaters aus, der sich so schaffenskräftig wie möglich betätigen muß und will, ist die freiwillige, unbedingte Unterordnung der indischen Frau ohne Frage keine geringe Wohltat. Mit kleinlichen

häuslichen Sorgen und Ärgernissen, mit Streit und Zank darf ihm nicht genaht

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Pörda: vergleiche Parda, besser Purdah (en)
  2. WS: Senana: vergleiche Zenana (en)
  3. WS: arisch: vergleiche Arier
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/263&oldid=- (Version vom 1.7.2018)