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einer indischen Frau, deren Gesamtheit sich der Hindu als Göttin Tilottama[WS 1] verkörpert vorstellt, überschwenglich gepriesen. Es heißt dort: „Als Parabrahma[WS 2], Schöpfer des Weltalls, die Frau erschaffen wollte, machte er die Wahrnehmung, daß er bei Erschaffung des Mannes sein gesamtes Material erschöpft hatte. Seine Bestürzung war groß, und er sann auf Ersatz. Er nahm die liebliche Rundung des Mondes, die wellenförmigen Linien und die Geschmeidigkeit des Schlangenkörpers, die graziösen Windungen der Schlingpflanze, das leichte Zittern des Grashalmes, die Schlankheit und Biegsamkeit der Weide, die sammetartige Weichheit der Blume, die Leichtigkeit der Feder, den sanften Blick der Taube, das Tändelnde, Scherzhafte des spielenden Sonnenstrahles, die Tränen der vorüberziehenden Wolke, die Unbeständigkeit des Windes, das Scheue des Hasen, die Eitelkeit des Pfaus, die Härte des Diamanten, das Süße des Honigs, die Grausamkeit des Tigers, die Glut des Feuers und die Kühle des Schnees, das Schwatzhafte des Papageis und das Girren der Turteltaube und das Einschmeichelnde, aber auch die Falschheit und Tücke der Katze. Alles dies mischte Parabrahma zusammen und formte daraus das Weib, das er dem Manne zur Gefährtin gab.“ Die Sage gipfelt dann etwas ungalant darin, daß der liebende Gatte in einem Augenblicke des Unmuts den Schöpfer bittet, ihn von seiner schönen Quälerin zu erlösen, bald darauf aber diese Bitte wieder zurücknimmt, um sie dann abermals vorzutragen; schließlich sieht er aber doch ein, daß es keinem Manne möglich sei, auf die Dauer ohne Frau glücklich zu leben.

Das in den Bardengesängen der Radschputen entstandene Urbild weiblicher Zärtlichkeit und Hingebung, die Fürstin Damajanti, und zahllose Dichterstellen zeigen, wie hoch die Indier die Frauen hielten, die vormals keineswegs so abgeschlossen wie heutzutage leben mußten; zu jener Zeit, als die Radschahhöfe noch Sitze ritterlicher und literarischer Unterhaltungen waren, wirkten die Frauen völlig uneingeschränkt in der Offentlichkeit. Der Fürst Dusmantha übertrug während seines Fernseins seiner klugen Mutter die Regierung, und die herrliche Brahmanentochter Sakuntala[WS 3] empfing und unterhielt die Freunde ihres Vaters an seiner Statt; selbst in den Gesetzbüchern Manus wird den Hindus die höchste Ehrfurcht vor ihrer Mutter gepredigt, allerdings stets in Verbindung mit einem Hinweis darauf, daß die natürlichen Gaben der Frau denen des Mannes nicht gleichkämen.

In der Gegenwart, wo die überwiegend große Mehrheit der Hindus zu einer politisch toten, gegen alle Wechselfälle gleichgültigen und deshalb auch im übrigen nicht sehr charaktervollen Masse heruntergesunken ist, macht sicherlich das Los ihrer Frauen mannigfache Verbesserungen wünschenswert. Aber es haben sich bereits Stimmen einsichtsvoller indischer Damen erhoben, in dieser durch Behramdschi Malabari und Pandita Ramabai[WS 4] eingeleiteten Frauenbewegung nicht allzu weit zu gehen und den Hindufrauen nicht ihre bisherige genügsame Zufriedenheit zu rauben. Bei dieser Belehrung der Indierinnen,

wieviel reicher an Freiheit die Frauen anderer Völker sind, darf doch wohl

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Tilottama: vergleiche Tilottama (en)
  2. WS: Parabrahma: vergleiche Para Brahman (en)
  3. WS: Dusmantha, Sakuntala: vergleiche Dushyanta, Shakuntala (en)
  4. WS: Behramdschi Malabari, Pandita Ramabai: vergleiche Behramji Malabari (en, 1853-1912), Ramabai Dongre Medhavi (1858-1922)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/265&oldid=- (Version vom 1.7.2018)