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das Dichterwort nicht ganz vergessen werden: „Wenn der Beraubte nicht den Raub vermißt — sagst du’s ihm nicht, so ist er nicht bestohlen!“

Junge Hindufrau vornehmer Kaste.

Der Ausgangspunkt der indischen Frauenfrage liegt in der sogenannten Kinderehe, die man viel richtiger eine unlösbare Verlobung nennen müßte, der natürlich erst in heiratsfähigem Alter die Vermählung zu folgen hat; allerdings tritt die kleine Zukunftsfrau alsbald in die Familie ihres Gatten ein, um dort von dessen Mutter vollends erzogen zu werden. Den vorzeitigen Vermählungen allzu junger Leute suchten schon seit geraumer Zeit indische Fürsten sogar durch Gefängnisstrafen vorzubeugen, ebenso Ehen zwischen alten Männern und jungen Mädchen. Das Streben der Reformatorinnen geht nun dahin, die feste Verlobung von Kindern abzuschaffen, vor allen Dingen aber für die Ausbildung der in jugendlichstem Alter zu Witwen gewordenen Mädchen Sorge zu tragen und sie vor der ebenso ungerechten wie unwürdigen Behandlung zu schützen, die im allgemeinen den Witwen und ganz besonders den noch kinderlosen widerfährt.

Die entsetzlichen Anschauungen der Hindus in Bezug auf die Schuld, die eine Witwe am Tode ihres Gatten trägt, indem dies Ereignis als eine Strafe für ihren sündhaften Lebenswandel in einer ihrer früheren irdischen Erscheinungsformen hingestellt wird, diese Irrlehren sind es, die mit allen Mitteln aufgeklärt werden müssen. Nicht minder nötig ist aber angesichts der grenzenlosen Unkenntnis und Gleichgültigkeit des Volkes in hygienischen Dingen eine gründliche sanitäre Fürsorge. In dieser Hinsicht haben sich bereits amerikanische und europäische weibliche Ärzte ihrer indischen Schwestern mit rührender Hingebung angenommen wobei sie, wie Mary Seelye[WS 1], häufig sogar Opfer der Überanstrengung wurden; auch haben Lady Dufferin und vor dieser bereits im Jahre 1866 Miß Carpenter[WS 2] unter hohen Protektorinnen große Fonds zusammengebracht, um Kliniken und Hospitäler für kranke indische Frauen zu errichten und Indierinnen mit ärztlichen Kenntnissen auszurüsten, solange die Senanas männlichen Ärzten verschlossen bleiben; da deren gewaltsames Eindringen, wie anläßlich der letzten Pestepidemie, ernsthafte Unruhen hervorzurufen vermag, sind Vereinigungen wie die Association for Supplying Femal Medical Aid to the Women of India gar nicht freudig genug zu begrüßen. Was in Indien an der Volksgesundheit bislang gefrevelt sein mag, ist gar nicht zu ermessen, da die eingeborenen Ärzte zumal bei chirurgischen Maßregeln unzureichend sind und weil die Indier im allgemeinen die fatalistische Überzeugung hegen, daß ärztliche Hilfe nutzlos sei, sobald sich die Lebenskraft nicht mehr selbst zu helfen vermag und Alter oder Schicksalsbestimmung den Tod des Erkrankten verlangen.

Anders aber verhält es sich mit den indischen Frauenrechtsbestrebungen auf sozialem Gebiete, die in ihren Forderungen fast so weit gehen, wie die bei uns zu Lande auftretenden. In erster Linie steht, wie gesagt, das Verlangen, die mit ehelicher Verbindung gleichbedeutende Verlobung ganz junger Leute

vollständig aufhören zu lassen. Gewiß klingt es für unser Gehör furchtbar,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Mary Seelye: von der Ladies Medical Missionary Society of Philadelphia, † 9. Juni 1875 (28) in Calcutta
  2. WS: Lady Dufferin, Miß Carpenter: vergleiche Hariot Hamilton-Temple-Blackwood, Marchioness of Dufferin and Ava, Mary Carpenter
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/266&oldid=- (Version vom 1.7.2018)