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wenn es heißt, daß es bei der Zählung im Jahre 1891 noch etwa 4000 Witwen zwischen fünf und zehn Jahren und beinahe 1000 gab, die noch nicht einmal das fünfte Jahr erreicht hatten; man muß nämlich in Betracht zieht, wie übel dieses Geschick an den jungen Witwen geahndet wird, die ihren zukünftigen Gatten häufig kaum kennen gelernt haben und die keinen Begriff haben können, warum sie von allen Seiten als Fluchbeladene verachtet und mißhandelt werden, warum sie nicht mehr ihre schönen Kleider und Schmucksachen tragen dürfen und weshalb sie plötzlich abseits essen und hausen müssen. Asyle, wie das von Narasim Jynegar in Meisor[WS 1] zur Ausbildung jugendlicher Brahmanenwitwen zu Lehrerinnen unter indischer Leitung begründete, sind als praktische Hilfsversuche aus dieser Not um so mehr zu begrüßen, als die schier unausrottbare Pestseuche in Indien die Scharen der Witwen noch immer täglich vergrößert und weil eine Brahmanenwitwe lieber Tod und Schande erleidet, ehe sie in die von christlichen Missionaren geleiteten Lehranstalten eintritt. Aber auch hier müßte stets der Schwerpunkt in der Bekämpfung des gegen die Witwen herrschenden Vorurteils liegen, das aus Verachtung in Mitleid und Teilnahme gewandelt werden müßte.

Ich würde kaum wagen, meine Bedenken gegen eine plötzliche, bei der Allmacht der Kastengewohnheiten übrigens gar nicht so bald zu erwartende Abschaffung der Kinderehen offen auszusprechen, wenn nicht auch eine Indierin, Anandibai Dschoßi[WS 2], die nach gründlichen medizinischen Studien in Amerika bei der Heimkehr starb, so daß sie die ihr angebotene Oberarztstelle an einem indischen Frauenhospital nicht übernehmen konnte, zu derselben Überzeugung gelangt wäre. Die Anschauungen der Hindus über die Stellung und Aufgaben der Frau weichen doch zu sehr von den unserigen ab, als daß man ihnen ohne weiteres unsere Gewohnheiten einimpfen dürfte. Gerade in Amerika wird die kluge Anandibai Dschoßi wohl genug Beispiele gründlicher Frauenemanzipation und in reifem Alter geschlossener „Vernunft“heiraten beobachtet haben, um zu der Erkenntnis gelangt zu sein, daß sich ihre Landsleute bei dem jetzigen System nicht wesentlich übler befinden, besonders nachdem durch ein Gesetz die untere Jahresgrenze für die Vermählung vorläufig für Jünglinge auf 18 und für Mädchen auf 14, in neuester Zeit sogar auf 20 und 16 Jahre festgesetzt wurde.

Vom Verlobungstage an weiß die junge Indierin bereits, welches männliche Wesen für sie fortan den vornehmsten Inhalt ihres Denkens und Sorgens zu bilden hat, und die Qual einer Wahl bleibt ihr erspart; ebenso kommt der junge Mann gar nicht in die Lage, während seines Heranwachsens seine Gedanken auf ein anderes Mädchen zu richten, als auf das ihm von seinen Angehörigen unter sorgsamer Beihilfe von Freunden, Brahmanen und Heiratsvermittlern oder Gatakis[WS 3] auserwählte. Da diese stets aus völlig gleichen gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgegangen ist, kennt und teilt sie die in der Familie des Gatten herrschenden Anschauungen und Gewohnheiten; frisch und unverdorben gehören die jungen Leute nunmehr nur sich an, ohne allerdings zuvor ihr Leben nach Kräften „genossen“ zu haben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Narasim Jynegar, Meisor: vergleiche Rai Bahadur A. Narasimha Iyengar (1845-?), Mysore
  2. WS: Anandibai Dschoßi: vergleiche Anandi Gopal Joshi (1865-1887)
  3. WS: Gataki: (Kaste, Weissager, Beruf?) konnte noch nicht identifiziert werden.
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/269&oldid=- (Version vom 1.7.2018)