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Es wäre mir frivol erschienen, wenn ich die uns seltsam, häufig sogar komisch anmutenden Gebräuche der Hindus anläßlich der für die Familie wichtigsten Ereignisse erwähnt hätte, ohne die dabei zu Grunde liegenden Anschauungen vorausgeschickt zu haben.

In der Tat kann die Art und Weise, wie die neugeborene kleine Indierin beim Erwachen zum Dasein begrüßt wird, selten dazu beitragen, das Selbstgefühl und die Ansprüche der anderen weiblichen Familienmitglieder zu heben. Wenn auch die Behauptung ganz entschieden eine Übertreibung ist, daß den Töchtern einer Hindufamilie ihr Dasein unausgesetzt verbittert oder wie ein Vergehen vorgeworfen zu werden pflegt, so wird doch die Geburt eines Sohnes, namentlich des ersten, begreiflicherweise mit weit mehr Freude und Jubel gefeiert, ja man kann sogar sagen: ausposaunt, als die eines Mädchens; alle Mitglieder einer Gesamtfamilie beeilen sich, mit Hilfe laut kreischender Opferhornmuscheln oder anderer klangvoller Geräte, an denen ja wegen der Benutzung bronzener Küchengeschirre im Hinduhaushalt kein Mangel herrscht, ihren getreuen Freunden und guten Nachbarn das erwünschte Ereignis in die Ohren zu schmettern, wobei sie gewiß sein können, auf allen Seiten ein teilnahmsvolles Echo zu finden. Wenn man in solchen Augenblicken ein Hindudorf betritt, könnte man an eine allgemeine Besessenheit glauben, so lebhaft ist dieser Tumult!

Ganz im Gegensatz dazu vollzieht sich der Eintritt eines Mädchens in das Leben, um nicht zu sagen in das irdische Jammertal, so geräuschlos wie möglich; diese Stille entspricht ganz und gar dem Verhalten, das in Indien von einem weiblichen Wesen ihr ganzes Leben lang als selbstverständlich und naturgemäß gefordert wird, da man ein Weib so wenig wie möglich gewahr werden soll und dies möglichst unbeachtet und still seine Pflichten zu erfüllen hat. Je nach der Vermögenslage mag die Behandlung recht verschieden ausfallen, doch habe ich viel häufiger einen liebevollen Umgangston als eine tyrannische Betonung des dienenden Verhältnisses beobachtet, das die Hindukultur der Frau dem Manne gegenüber aufladet. Bei den oberen Klassen wird dieser Ton sicherlich noch wesentlich liebenswürdiger klingen, als bei dem niederen Volke, dessen Treiben der Fremde allein zu beobachten vermag; wenn er einige Behutsamkeit aufwendet, kann er dabei häufig sehr drollige und anmutige Familienszenen belauschen.

Es ist freilich eine Tatsache, daß als Kinder gewöhnlich nur Söhne gezählt werden, und daß in vielen Teilen Indiens Töchter nicht einmal erbberechtigt sind; ein sonderbarer Brauch bringt es im Pendschab[WS 1] sogar mit sich, daß der Vater bei der Nachricht von der Geburt eines Mädchens mit einem Stock gegen einen leeren Korb zu schlagen und auf teilnehmende Fragen, ob ihm ein Kind geboren sei, mit nein zu antworten pflegt. Selbst die Mutter des Kindes muß manchmal die getäuschte Hoffnung der Familie auf männliche Nachkommenschaft durch Vernachlässigung büßen, während mit ihr und ihrem Sprößling, falls

dies ein Bube ist, wahre Abgötterei getrieben wird. Die Dasturi[WS 2], die althergebrachte Sitte, erlaubt dem Vater jedoch nicht, das neugeborene Söhnlein

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Pendschab: vergleiche Punjab
  2. WS: Dasturi: unsicher, je nach Kontext sind Tradition, aber auch Gebühren gemeint
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/273&oldid=- (Version vom 1.7.2018)