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Die eine Hochzeit begleitenden zahllosen, tagelang dauernden Förmlichkeiten müssen uns schneller Lebenden ebenso wie die dabei abgesungenen Lieder ungemein ermüdend erscheinen; der Hindu dagegen versenkt sich mit vollster Aufmerksamkeit in alle diese Vorgänge und kann seinerseits die große Eilfertigkeit nicht begreifen, mit der Europäer die wichtigste Handlung ihres Lebens vollziehen.

Bereits mehrere Tage vor dem Hochzeitsfeste werden sämtliche Fußböden des Hochzeitshauses mit einem neuen Estrich aus Lehm und gedörrtem Kuhdünger gepflastert und mit Asche von verbranntem Kuhdünger bestäubt; dann wird in der Mitte des Innenhofes der festliche Scheiterhaufen aus Scheiben von getrocknetem Kuhdünger aufgehäuft, dessen Glut während der Feierlichkeiten nicht erlöschen darf. Während der Hausbrahmane ihn in Brand steckt und die Gottheit in Puranastrophen preist und anruft, stimmen die Frauen die Hochzeitsgesänge an; in diesem Augenblicke werden in den meisten Gegenden Indiens Braut und Bräutigam von ihren Angehörigen in abgesonderten Räumen unter Aufwand besonderer Zärtlichkeit mit Kokosöl eingerieben, um dann auf dem Festplatz zu erscheinen, wobei ihnen die beiden Mütter des jungen Paares voran gehen, die Hand in Hand das Opferfeuer umschreiten. Mit besonderer Feierlichkeit malt nunmehr der Brahmane dem Bräutigam das seiner Sekte zukommende religiöse Tilakzeichen auf die Stirne, während der Braut von ihren Eltern etwas Öl aufs Haupt geträufelt wird, und dann pflegt eine kurze Prüfung der von den jungen Leuten bereits erworbenen Kenntnisse und Ansichten zu folgen, bevor die weiteren Zeremonien stattfinden.

Ganz besonders wird in Bengalen auf die wissenschaftliche Bildung des Bräutigams Wert gelegt, und der Vater eines Sohnes, der ein Universitätsexamen bestanden und einen akademischen Gradtitel errungen hat, darf hinsichtlich der Eigenschaften und Ausstattung der Schwiegertochter ganz besonders hohe Ansprüche stellen, obgleich reiche Väter es sich nicht nehmen lassen, für ihre Söhne die Hochzeitskosten zu bezahlen, die oft mehr als ein Lakh[WS 1] Rupies d. h. mehr als 200.000 Mark betragen; früher wurde sogar seitens bengalischer Familien ein wahrer Wetteifer entwickelt, sich hierbei an Aufwand zu überbieten. Die zunehmende allgemeine Armut hat auch den Prunk bei den Hochzeitsfeierlichkeiten auffallend verringert, und ist dies nicht, wie oft geglaubt wird, ein Verdienst der Regierungsvorschriften, durch die für alle an die Brahmanen und Beamten zu zahlenden Gebühren eine bestimmte Taxe festgesetzt wurde.

Die bei uns herrschenden Ansichten über die indische Ehe würdigen selten genügend die große Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die von vermögenden Eltern aufgewendet wird, um für ihre Töchter nicht nur angesehene und tüchtige, sondern auch mit körperlichen Vorzügen gesegnete Gatten zu bekommen; in Kalkutta sind zahlreiche Fälle bekannt, wo von den Angehörigen des Mädchens

die durch Heiratsvermittlerinnen vorgeschlagenen Kandidaten zurückgewiesen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Lakh Rupies: vergleiche Lakh (100.000)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/277&oldid=- (Version vom 1.7.2018)