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am Schlusse des Festes die inzwischen aus der Erde gesprossenen Hälmchen als Amulette an diejenigen Pilger, die zum Besten des Tempels recht tief in den Beutel gegriffen haben. Gleichzeitig findet im Palast eine Audienz für hohe Beamte und Offiziere statt, die dem Premierminister ein Geldgeschenk und dem Generalissimus ein halb so wertvolles darzubringen haben; diejenigen, welche in ihren Ämtern verbleiben, werden hierbei seitens des Premierministers durch eigenhändiges Aufmalen eines roten Stirnzeichens beglückt.

Je höher die Sonne stieg, um so schwächer wurde der Verkehr vor dem Paschpattinathtempel, der nicht, wie die meisten in Nepal, drei Stockwerke mit kleiner werdenden Dächern, sondern nur zwei übereinander trägt, die aber reichlich mit Goldblech beschlagen sind und von herrlich geschnitzten, schräg gestellten Balken getragen werden. Ganz deutlich konnte ich jetzt die einzelnen Pilger beobachten, die andächtig das Bagmatiwasser schlürften und sich damit die Stirne benetzten oder zum Bad in den Fluß hinuntertauchten und dann auf den Stufen der Ghat-Treppe die wunderlichen Leibesübungen durchmachten, durch die der brahminische Hindu die Verwandlungen des Gottes Wischnu und andere mythologische Erscheinungen nachahmt. Einer dieser wunderlichen Heiligen legte sich z. B. flach auf die Erde und krümmte dabei gleichzeitig Arme und Beine wie ein Kautschukmann, sprang dann auf, um einige Minuten auf einem Beine zu hocken, dann wieder drehte er sich, in die Hände klatschend, wie ein Kreisel herum und blieb schließlich mit hochgehobenen Händen stehen; dabei starrte er beständig nach Osten, indem er den Hymnus an die Sonne murmelte, der bei jedem Bade eines Brahmanen rezitiert werden muß. Dazwischen warf er ab und zu Früchte und Blumen in den rasch dahinfließenden Strom, die er aus einer Schale auf einen Bronzeteller schüttete, in dem eine Brahmafigur eingraviert war und den er dann über dem Wasser entleerte.

Ich darf nicht vergessen, der auf dem anderen Ufer stattfindenden Leichenverbrennungen zu gedenken, denn es gilt in Nepal als ein ganz besonderer Vorzug, hier am Bagmati, der ja der heiligen „Mutter Ganga“ zueilt, verbrannt zu werden. In früheren Jahren pflegte hier das freiwillige Verbrennen der hinterbliebenen Witwen mit dem Leichnam ihres Gatten überaus häufig stattzufinden, das aber jetzt auch in Nepal nur noch selten geübt wird, seitdem Jan Bahadur die Verbrennung von mit Kindern versehenen Witwen gänzlich verboten und es im übrigen jeder anderen Witwe freigestellt hat, noch im letzten Augenblicke von ihrem furchtbaren Vorhaben zurückzutreten, ohne deswegen Zurücksetzungen in ihrer Kaste ausgesetzt zu werden. Völlig vermochte aber selbst dieser energische Reformator Nepals den uns furchtbar erscheinenden Brauch des Witwenselbstmordes nicht zu beseitigen. Doch trotzte er gern und wo er konnte den Volksvorurteilen und baute z. B. den von General Bim Sen in gigantischem Maßstabe begonnenen, nach seinem Tode aber dem Zerfall überlassenen Dschagannathtempel[WS 1] aus, allerdings nur mit möglichst billigem Ziegel- und Stuckmaterial, um das Törichte des Aberglaubens zu erweisen, daß solche

Fortsetzung des Unternehmens eines Verstorbenen den eigenen Tod veranlasse.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: gigantischer Dschagannathtempel: wohl nicht der auf dem Durbar-Platz von Kathmandu (vergleiche Seite 265), der zu den ältesten Bauwerken der Stadt gehören soll
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/363&oldid=- (Version vom 2.7.2018)