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Bombay, dem siedendheißen Madras[WS 1] und dem stolzen Kalkutta, oder haben Sie dabei menschenferne Schneegefilde des unwegsamen Himalaja oder die pagodenprangenden[WS 2] Brahminenparadiese an der Malabarküste im Auge, wo der Europäer mit seinem weißen Sonnenhut, dem Sola Topi[WS 3] aus leichtem Pflanzenmark noch eine seltene Erscheinung ist? Und daß der Aufenthalt in einer üppigen Sommerfrische, z. B. in Dardschiling[WS 4] an den Vorhügeln der indischen Alpen, wo man schlemmen kann wie Gott in Frankreich, anders aussieht als in einer entlegenen dürftigen Theepflanzung irgend eines jüngeren, also erblosen Sprößlings einer englischen Adelsfamilie, bedarf wohl auch keiner Erwähnung.

Vor allen Dingen aber, was verstehen Sie, sehr geehrter Herr Fragesteller, unter „Reisen –“? Vermutlich bequeme Vergnügungsfahrten, wie sie Stangen und Cook[WS 5] für Kommerzienräte und pensionierte Generäle vorsorglich zurechtmachen? Oder denken Sie dabei an die im heißen, erschlaffenden Indien noch mehr als in Europa aufreibenden, kaufmännischen Geschäftsreisen oder an das arbeits- und mühevolle Umschauen des Forschers, des Künstlers im indischen „Mofussil“[WS 6], d. h. in Gebieten, in denen das Wanderzelt die Stelle der Gasthöfe, das eigene offene Auge und Ohr die auswendig gelernten Erläuterungen des Fremdenführers und der eigene freie Wille die hergebrachte Marschroute ersetzen muß?

Indische Verhältnisse kann man nicht mit kurzen Worten schildern; es kommt immer darauf an, welches besondere Fleckchen gerade in Betracht kommt. Nirgends berühren sich die Gegensätze so sehr, wie gerade in Ostindien; von allem gewöhnlich zu viel oder zu wenig. Auf sechs Monate Dürre folgt ein halbes Jahr Regen; Gluthitze versengt die übervölkerten Orte der indischen Ebene, während auf dem Firnschnee des Himalaja, des höchsten aller Gebirge, das diese unermeßliche, glühende indische Ebene nach Norden vermauert, alles Leben, ja selbst das Quecksilber des Thermometers frostbebend erstarrt. Kein Laut tierischen Lebens durchdringt die weihevolle Stille in jenen einsamen, stolzen Tempeln der Natur, deren höchste, riesigste Gipfelzinnen zu überfliegen selbst dem Adler versagt bleibt, und fürchterliches Geschrei und Gebrüll erschallt in den dichten, dampfenden Urwäldern zu ihren Füßen, wenn dort die ungeheuersten Geschöpfe des Erdballs mit den reißendsten aller Raubtiere den Kampf ums Dasein ausfechten. In je üppigeren Farben dort die Blüten prahlen und glühen, um so ärmer sind sie an Duft; je riesiger, reizvoller die Frucht ist, um so fader erscheint ihr Geschmack. Regungslos schlummern die spiegelglatten, warmen Wasser des Indischen Ozeans ganze Monate hindurch unter stets lachendem, blauem Himmelszelt — urplötzlich schleudert ein rasender Zyklon diese selben Wasser einem von pechschwarzen Wolken verfinsterten Firmamente entgegen.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem Leben der Menschen da drüben im

Lande der Wunder. Asiatische Barbarei hart neben europäischer Überkultur, unglaubliche Dürftigkeit neben maßlosem Prunk! Die elende Hütte, die sich der

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Bombay, Madras: vergleiche Mumbai, Chennai
  2. WS: Pagode: eigentlich wie in Kapitel 3 die Bezeichnung für buddhistische Bauten, siehe Pagode; hier ebenso wie auf S. 93ff abweichend für hinduistische Bauten verwendet
  3. WS: Sola Topi: vergleiche Tropenhelm
  4. WS: Dardschiling: vergleiche Darjeeling
  5. WS: Stangen und Cook: vergleiche Carl Stangen (1833–1911) und Thomas Cook (1808–1892)
  6. WS: Mofussil: vergleiche mofussil (Urdu, in etwa: rural/am fernen Rand der Ballungsgebiete)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/86&oldid=- (Version vom 1.7.2018)